Sieben Stunden im April
uraufgeführt worden. Das erste bürgerliche Trauerspiel der Neueren Deutschen Literatur, so habe ich nachgelesen. Und richtig gut geht die Sache auch nicht aus.
Und die Sch’tis kommen aus Frankreich, aus Nord-Pas-de-Calais, und bringen mich zum Lachen. Besonders mag ich die Szene, in der der Südfranzose von der Autobahnpolizei angehalten wird. Ich weiß, ich bin zu schnell gefahren. Nein, zu langsam, erwidert der Polizist.
Aber wie gesagt – das kann man alles wirklich nicht miteinander vergleichen.
Ich würde gerne mal wieder ins Kino.
Dann besorg Karten.
Ich weiß aber nicht, was läuft.
Egal. Besorg Karten.
Ostfriesland macht stur
Kennst du schon Willkommen bei den Sch’tis ? Musst du sehen. Total witzig. Toller Film.
Sagt Jörg.
Ich liebe Filme und das weiß er. Er weiß auch, dass ich in meinem neuen Leben Filme bevorzuge, die auf Gewalt, besonders gegen Frauen, auf Messer und überhaupt auf Waffen, auf Horror, überdrehte Action, Polizeisirenen, Entführungen, Fesselungen und Gefängnisszenen verzichten. Da bleibt dann nicht viel übrig. Das weiß er auch.
Andererseits ist bei Filmtipps von Jörg immer Vorsicht angebracht. Jörg ist Ende dreißig, lebt alleine und hat zahlreiche Affairen mit wunderschönen Frauen, gerne erheblich jünger als er, hinter und wahrscheinlich auch noch vor sich. Jörg steht auf Markenkleidung, Style in jeder Hinsicht, auf Süßigkeiten und auf schnelle Autos. Jörg hat einen exquisiten Film-, Buch- und Musikgeschmack und ein besonderes Faible für Japan. Er plant seit Jahren eine Reise dorthin, ist aber noch nie weiter als bis nach Berlin gekommen. Mit Jörg war ich vor Jahren zum ersten Mal Sushi essen. In einer Sushi-Bar. Sehr stylish.
Jörg ist der Titel »Master of Internet« verliehen worden. Von mir. Kein PC-Problem, das er nicht lösen könnte und würde. Weil Jörg ist, wie er ist – nämlich unter anderem auch sehr hilfsbereit –, trägt er die Schuld daran, dass das Einzige, was mir einfällt, wenn die Technik spinnt, seine Telefonnummer ist.
Du, Jörg, ich habe da mal ein kleines Problem …
Jörg ist nicht nur hilfsbereit, sondern auch sehr großzügig und daher immer pleite. Jörg sieht so aus, als könne er kein Wässerchen trüben, aber die Sache mit der Tiefe stiller Gewässer ist wie für ihn gemacht. Jörg stapelt und taucht gern sehr tief, ist ein großer Rationalist mit Hang zur Kultivierung depressiverSonntagnachmittage, die er dann im Bett verbringt. Manchmal sogar allein. Jörg ist beziehungsunfähig. Sagt er. Jörg ist ein guter Psychologe, wenn er auf die Dinge Lust hat. Die anderen lässt er mit Welpenblick gerne an sich abprallen. Sage ich.
Jörg ist anders als ich und das ist gut so. Jörg war mein Stellvertreter und Psychologen-Kumpel in meinem alten Leben. In meinem neuen ist er mein Freund.
Die Friesen sind der einzige Volksstamm, der es konsequent abgelehnt hat, Nordgermanien zu verlassen und umzuziehen. Völkerwanderung? Ohne uns. Jörg ist Ostfriese. Jörg ist stur. Menschen, die keinen Jörg haben, sind zu bemitleiden.
Standbild:
Ich komme raus. Es ist vorbei. Vorbei. Da steht Jörg. Wie blass er ist. Ich gehe auf ihn zu. Unsere Augen treffen sich und lassen sich nicht los, bis ich vor ihm stehe. Ruf Wolfram an. Bitte, ruf Wolfram an. Er muss doch wissen, dass es vorbei ist. Ist schon erledigt, sagt Jörg. Er weiß Bescheid. Und dann: Er hat mich vergewaltigt. Er hat mich stundenlang vergewaltigt. Ich sehe Tränen in seinen Augen und werde sie in den folgenden Monaten noch oft sehen. Öfter als in meinen.
Jörg ist da in dieser Nacht. Und am nächsten Tag. Er holt Kleidung für mich. Nimm das und das. Du findest es im Schrank. Ja. Er bringt mir Unterwäsche ins Krankenhaus und es ist mir nicht peinlich. Jörg regelt die Dinge, während die Dinge versuchen, mich zu regeln. Jörg ruft eine Psychiaterin an, die nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nach mir sehen soll. Jörg besteht darauf, dass ich mich nach Regensburg bringen lasse. Ich will nicht. Keine fremde Umgebung. Ich will in meinem Haus bleiben. Nein, sagt Jörg. Jörg ist einer der Ersten, die den Wegweiser aufstellen: Ins neue Leben, bitte hier entlang.
In der langen Zeit, in der ich mich in meinem neuen Leben umsehe und nur versuche, den Sinn zu finden, ist Jörg immerda. Unaufdringlich. Meine Verbindung in mein altes Leben. Und immer wenn ich sage, ich möchte es doch nur wieder zurückhaben, dieses alte Leben, sagt Jörg: Nein. Immer wieder nein. Stur.
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