Siebenschön
entschied sich dagegen. »Jedenfalls habe ich irgendwann dann doch erzählt, was wirklich passiert ist. Dass ich Frau Dickinson gesehen habe, wie sie mit Nurja auf dem Arm in den Garten hinausging.« Sie schloss die Augen, und Em sah den Schmerz, den sie bis dahin so sorgfältig verborgen hatte. »Nurja schrie die ganze Zeit. So wie immer. Und dann … war es auf einmal still.«
»Aber Sie haben nicht gesehen, wie Jenny Ihre Schwester in den Teich warf?«, hakte Em sicherheitshalber noch einmal nach.
»Ich sah sie rausgehen. Und ich sah auch, wie sie anschließend den Kinderwagen nach draußen schob, damit es den Anschein machte, als ob Nurja im Garten gewesen wäre.«
Nur eine Sechsjährige war Zeugin, dachte Em. Jenny Dickinson hatte nichts zu befürchten.
»Wann rief sie die Polizei?«
»Danach.«
»Nachdem sie den Kinderwagen rausgebracht hatte?«
»Genau. Sie kam zurück und fragte mich, wo Nurja sei. Unddann tat sie, als ob sie nach ihr suche.« Raya Hosseini schluckte trocken, und wieder lag Verächtlichkeit in ihrem Blick, als sie weitersprach. »Irgendwann kam sie zurück. Mit meiner Schwester auf dem Arm. Nurja war ganz blau und atmete nicht mehr. Dann rief sie den Krankenwagen.«
»Hat Frau Dickinson noch irgendwas zu Ihnen gesagt, während Sie auf die Sanitäter warteten?«
»Nein.«
»Sie sprachen kein Wort?«
»Nein. Sie rannte herum. Hektisch. Räumte Sachen hin und her. Brachte Spielzeug in den Garten, damit es so aussah, als ob wir draußen gespielt hätten.«
»Und Sie?«
»Ich?« Unter Raya Hosseinis linkem Auge zuckte ein Muskel. »Ich saß auf der Terrasse und hielt die Hand meiner toten Schwester …«
9
»Könnte der Täter rein theoretisch auch eine Frau sein?«
Koss ließ sich diese Möglichkeit eine Weile durch den Kopf gehen. »Theoretisch ja«, sagte er schließlich. »Praktisch würde ich allerdings nicht unbedingt davon ausgehen.«
Em nickte. Sie sah das ganz ähnlich. Und doch hatte sie das Gespräch mit Raya Hosseini gehörig ins Nachdenken gebracht.
»Seine Opfer sind – mit Ausnahme von Theo Dorn, den er einzig und allein deshalb tötete, weil er nicht spurte – allesamt Menschen, in deren Vergangenheit es einen dunklen Punkt gibt«, resümierte sie.
»Ja, schon«, pflichtete Zhou ihr bei. »Aber woher weiß der Täter das? Lina Wöllner zum Beispiel: Nicht mal der Ehemann wusste, dass sie früher mal unter Mordverdacht stand. Und auchdie anderen werden mit den Leichen in ihren Kellern ja wohl kaum hausieren gegangen sein, oder?«
Sie hat recht, dachte Em.
»Also«, sagte Zhou. »Wem erzählt man von solchen Dingen?«
»Seinem Beichtvater«, scherzte Decker.
»Seinem Psychologen«, ergänzte Em.
Koss schmunzelte. »Nicht unbedingt.«
»Aber das ist trotzdem ein wichtiger Punkt«, insistierte Em. »So eine Therapiegruppe, wie Tidorf und Berneck sie besucht haben, ist ein echter Biotop.« Sie lehnte sich zurück. »Eine überschaubare Anzahl von Leuten, die einander ihr Herz ausschütten. Und der Witz an der Geschichte ist, dass man vor Gleichgesinnten viel eher auspackt, was man vor der eigenen Familie gar nicht erst sagen würde.«
»Man fühlt sich nicht automatisch verurteilt«, stimmte Koss ihr zu. »Und außerdem hat man – anders als bei Familie oder Freunden – jederzeit die Möglichkeit, die Sache zu beenden, wenn sie einem zu viel wird. In diesem Fall bleibt man einfach weg, und mit ein bisschen Glück sieht man seine Mitwisser niemals wieder.«
Mitwisser … Das Wort krallte sich in Ems Unterbewusstsein, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. »Und was ist die Voraussetzung, um sich in einer solchen Gruppe wohlzufühlen?«
Decker schlug die Beine übereinander. »Ein Dachschaden?«
»Nein«, lachte Em. »Vertrauen.«
»Und wem vertraut man?«, fragte Zhou.
»Menschen, die das gleiche Problem haben.«
»Genau.«
»Also muss der Mörder in irgendeiner Weise mit dieser Gruppe zu tun haben«, schloss Decker.
»Eine schöne Theorie«, sagte Zhou. »Nur leider hat sie einen Haken.«
»Welchen?«
»Lina Wöllner war nie Mitglied dieser Gruppe. Ebenso wenig wie Jenny Dickinson.«
»Aber Jenny hospitierte dort«, widersprach Decker. »Und Lina Wöllners Auftritt in Westens Praxis fiel ebenfalls auf einen Donnerstag.«
»Trotzdem wird Jenny Dickinson in ihrer Rolle als Hospitantin wohl kaum gesagt haben: Ich habe früher übrigens auch mal ein Kind in einen Gartenteich geworfen und zugesehen, wie es ertrunken ist.«
Schau an, dachte Em,
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