Siebenschön
Verletzlichkeit. Aber auch Trotz.
Suchen Sie nach jemandem, dem eine Demütigung widerfahren ist, murmelte Koss hinter ihrer Stirn. Vielleicht wollte er Schauspieler werden und wurde abgelehnt. Vielleicht durfte er nicht ins Fußballteam …
»In der Vergangenheit hat er sich von verschiedenen Männern aushalten lassen, die alle deutlich älter waren als er selbst«, setzte Decker seinen Bericht fort.
»Also ist er schwul«, schloss Em.
Decker zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er auch bloß einen Vaterkomplex.«
»Und was macht er, wenn er nicht Basketball spielt?«
»Er studiert Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften. Allerdings hat er noch nicht mal seinen Bachelor, obwohl er mittlerweile im neunten Semester ist. Aber das schiebt er natürlich auf die Doppelbelastung von Studium und Leistungssport.« Er rollte ein Stück zurück. »Seine Mutter ist vernünftig genug, es ihm nicht vorn und hinten reinzuschieben, sodass er die Wahl hat, arbeiten zu gehen oder sich einen reichen Kerl an Land zu ziehen.«
»Was ihm nicht schwerfallen dürfte«, erwiderte Em trocken. »Er sieht verdammt gut aus.«
»Findest du?« Decker verzog das Gesicht.
Sie lachte. »Ist das Homophobie, die da aus dir spricht?«
»Nee,aber ich kann Typen mit langen Haaren nicht ausstehen.«
Ihre Frotzeleien wurden von Gehling unterbrochen, der wie wild mit der Hand wedelte. »He, Leute, ich bekomme hier gerade die Auswertung der Bänder aus dem Motel rein.«
Em sprang auf. »Lass sehen!«
»Zur fraglichen Zeit haben insgesamt drei Kameras Bilder aufgezeichnet, die für uns interessant sein könnten.« Gehling tippte Befehle, während sich die Kollegen hinter seinem Stuhl zusammendrängten. »Leider scheint das Material qualitativ nicht besonders gut zu sein.«
»Und wenn schon«, rief Em ungeduldig. »Zeig her!«
»Okay. Also, das hier stammt aus der Kamera über dem Eingang.« Die Aufnahme zeigte eine Person in dunkler Outdoorjacke, die mit zielstrebigen Schritten die Lobby des Motels betrat. Anhand der Bewegungen höchstwahrscheinlich ein Mann, auch wenn man von dem Gesicht nicht viel erkennen konnte, denn die Person hielt den Kopf gesenkt.
»Toll«, stöhnte Em, »das könnte praktisch jeder sein!«
»Hab ich doch gesagt.«
»Quatsch nicht und mach weiter.«
»Als Nächstes habe ich hier eine Sequenz von der Deckenkamera aus dem Aufzug.« Gehling klickte die entsprechendeDatei an, und Em sah die gleiche Person wie zuvor. Wieder hielt der Betreffende den Kopf gesenkt, und dieses Mal war Em ziemlich sicher, dass Absicht dahintersteckte.
»Er ist vorsichtig«, bemerkte Zhou, deren Gedanken offenbar in die gleiche Richtung gingen. Laut Einblendung war es zu diesem Zeitpunkt 17 Uhr 16.
»Die letzte Kamera befindet sich am Ende des Flurs, auf dem Sarah Kindles Zimmer lag«, fuhr Gehling fort. »Wenn man von ihrem Zimmer kommt, wird die Kamera von einer dieser Lampen hier verdeckt, sodass er sie auf seinem Rückweg erst sehr spät bemerkt hat.« Er markierte die Stelle mit seinem Cursor.
Em beugte sich vor, um die körnigen Aufnahmen besser erkennen zu können. Es war ein Mann, ganz eindeutig. Nicht allzu groß und elegant gekleidet. Unter der Jacke konnte man jetzt deutlich eine schwarze Anzughose erkennen, die Lederschuhe glänzten. Das Haar des Mannes war kurz geschnitten und dunkel, und er schien noch recht jung zu sein. Die Einblendung in der rechten oberen Ecke zeigte 17 Uhr 22.
»Halt das an!«, schrie Em.
Gehling gehorchte.
»Und jetzt ein Stück zurück. Aber langsam.«
Der Mann auf dem Bild bewegte sich in Zeitlupe rückwärts.
»Da!« Ihr Zeigefinger schnellte vor. »Das ist der Moment, in dem er mitgekriegt hat, dass sich auf diesem Gang noch eine weitere Kamera befindet.«
Und tatsächlich: Der Fremde auf dem Band hob flüchtig den Kopf, um ihn im nächsten Moment blitzartig wieder zu senken. Zugleich zog er die Schultern hoch und beschleunigte seine Schritte.
»Ich brauche Standbilder von der Sequenz, wo man sein Gesicht sieht«, rief Em. »Hat er auf dem Rückweg wieder den Aufzug genommen?«
»Nein«, antwortete Gehling. »Er ist die Treppe runter.«
»Aus Schreck über die Kamera?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Wenn er hätte Aufzug fahren wollen, dann wäre er gar nicht erst in diese Richtung gegangen. Der Lift ist von Sarah Kindles Zimmer aus gesehen linksrum.«
»Vielleicht wollte er vermeiden, Manuel Kendrich zu begegnen«, schlug Zhou nach einem Moment des Überlegens
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