Siebenschön
schießen.
»Die sind bereits in der Auswertung«, antwortete Decker. »Die Kollegen gleichen das so schnell wie möglich ab.«
»Dabei wird nicht viel herauskommen«, bemerkte Em trübe. »Dazu ist er viel zu vorsichtig.«
»Jetzt wart’s doch erst mal ab«, sagte Decker. Doch so richtig überzeugt klang er nicht.
11
Em machte bereits bei der Begrüßung unmissverständlich klar, dass sie sich mit einem »Keine Zeit« dieses Mal nicht zufriedengeben würde. Und sie hatte Erfolg. Nach einer Schrecksekunde antwortete Astrid Gerolf mit dem erhofften: »Ja, natürlich. Augenblick, bitte. Ich verbinde Sie.«
»Spieltheorie«, sagte Em, kaum dass Sander Westen sich gemeldet hatte. »Jemand, dem es Spaß macht, sich mit Wahrscheinlichkeiten und Spielzügen auseinanderzusetzen. Der gern Rätsel löst. Der mathematisch und wahrscheinlich auch auf anderen Gebieten hochbegabt ist. Und dem Sie irgendwann in der Vergangenheit attestiert haben, dass er nicht richtig tickt.« Sie hielt inne. »Fällt Ihnen dazu irgendwer ein?«
Die Stille am anderen Ende der Leitung hatte etwas Sogartiges.
Er hat eine Idee!, durchzuckte es Em. Er weiß ganz genau, von wem ich rede!
»Ich hatte im Laufe der Zeit einige Patienten, die Hochbegabungen in dieser Richtung aufwiesen«, sagte Westen nach einer Weile.
»Hören Sie auf, meine Zeit zu verschwenden«, versetzte Em unwirsch. »Sie denken an jemand ganz Bestimmten.«
Noch eine Pause. Aber nicht ganz so lange. »Sie haben recht.«
»Ich brauche einen Namen.«
»Marius. Marius Norén.«
Sie machte sich eine entsprechende Notiz. »Was war mit ihm?«
»Er kam zu uns, weil er zwei kleine Jungen getötet hatte. Zwillinge.«
»Wie alt?«
»Zwei, glaube ich.«
»Und an seiner Schuld gab es keinen Zweifel?«
»Nein, nicht den geringsten. Allerdings war er noch nicht straffähig, weshalb dem Gutachten über seine psychische Disposition eine besondere Bedeutung zukam.« Westens Sprechtempo war hoch. Em hatte beinahe das Gefühl, dass er sein Wissen jetzt, da er einen konkreten Ansatzpunkt hatte, so schnell wie möglich teilen wollte. »Er kam unmittelbar nach seiner Festsetzung zu uns nach Haina und durchlief dort alle Tests, die in solchen Fällen vorgesehen sind. Doch das brachte uns nicht viel weiter. Er war viel zu raffiniert für die Standardfragen und spielte trotz seines Alters Katz und Maus mit allen, die es zuließen.«
Also nicht mit dir, las Em aus der Formulierung, die er gewählt hatte.
»Schließlich ging ich hin und erweiterte den Fragenkatalog, wobei ich auch Parameter miteinbezog, die normalerweise ausschließlich bei Erwachsenen Anwendung finden.«
Sie ahnte bereits, worauf die Sache hinauslief. »Wie alt war Marius Norén damals?«
»Zwölf.«
»Und wie lange ist das her?«
Westens Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Vierzehn Jahre.«
Also ist Norén jetzt sechsundzwanzig, resümierte Em.
Das passt! , signalisierte Koss ihr gegenüber. Sie hatte auf Lautsprecher geschaltet, damit ihre Kollegen mithören konnten.
»Wie lange war er in Ihrer Obhut? Und vor allem: Wo ist er heute?«, wandte sie sich wieder an Westen.
»Wo er heute ist, weiß ich nicht«, antwortete er. »Und leider ist er auch nicht allzu lange in Haina geblieben.« Unterdrückter Ärger färbte seine Stimme einige Nuancen dunkler. »Ein halbes Jahr, maximal.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie.
Westen gab einen unterdrückten Laut von sich. »Marius’ Mutter war der Meinung, dass ich ihrem Sohn Unrecht tue. Also gab sie ein zweites Gutachten in Auftrag, was natürlich ihr gutes Recht war.«
Ems Finger trommelten auf die Tischplatte. »Und dieses Gutachten kam zu grundlegend anderen Schlüssen als Sie.«
»Es ist schwierig, in einem so jungen Alter überhaupt so was wie eine Prognose abzugeben«, erwiderte er vorsichtig. »Noch dazu eine seriöse.«
»Erzählen Sie mir nichts«, konterte sie. »Dieser Meinung sind Sie ganz und gar nicht.«
»Aber der überwiegende Teil meiner Kollegen, wie Sie wissen.« Er räusperte sich. Seine Stimme klang noch immer ein wenig atemlos. »Und nicht zuletzt deshalb gilt auch in der forensischen Psychiatrie der Grundsatz: In dubio pro reo.«
»Und Marius Norén kam raus?«
»Er wurde in den ambulanten Vollzug nach Eltville verlegt, damit er auf eine normale Schule gehen konnte. Und er wurde therapiert, soweit ich weiß.«
»Etwas, das Sie persönlich für vergeblich hielten?«
»Das würde ich so nicht sagen.«
Sie glaubte ihm kein
Weitere Kostenlose Bücher