Siebenschön
Fassade hoch. Das Dach war praktisch völlig im Eimer, die Wände feucht und von fingerbreiten Rissen durchzogen.
Auf das Vordach über der Haustür fiel ein leiser Nieselregen. Doch ansonsten war es erstaunlich still. Viel stiller als in der Stadt. Eigenartig, dachte Zhou, die ihr ganzes bisheriges Leben in pulsierenden, lauten Metropolen verbrachte hatte. Erst in Hongkong, dann in Frankfurt. Und beruflich in Washington und Jerusalem. Nur eine halbe Stunde Fahrt, aber vom Lebensgefühl her ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Als sie die kurze Auffahrt hinaufging, überlegte sie, ob sie sich nicht doch ein wenig zu früh auf Norén einschossen. Capelli war geradezu besessen von seiner Geschichte. Und auch sie selbst hatte sich in den vergangenen Stunden immer wieder dabei ertappt, die anderen Möglichkeiten zu vernachlässigen und ihr Denken voll und ganz auf diesen einen Verdächtigen zu konzentrieren, von dem sie noch nicht einmal wussten, ob sie ihn finden würden …
Auf dem Klingelschild stand kein Name, aber sie klingelte trotzdem. Von irgendwoher wehte der Geruch von Ruß und gekochtem Kohl an ihre Nase.
»Ja?« Die Frau, die ihr öffnete, hatte fettiges Blondhaar undwar schätzungsweise zwischen vierzig und fünfzig. Sie trug einen weiten rostroten Strickpulli und hellblaue Gesundheitssandaletten zu ihren gleichfarbigen Kuschelsocken.
Zhou nannte ihren Namen und zeigte ihren Dienstausweis. Und sofort stahl sich ein Hauch von Argwohn in die teigigen Züge der Frau.
»Polizei?«
Noch dazu mit Schlitzaugen …
»Es geht um die Vorbesitzerin dieses Hauses«, erklärte Zhou, bemüht, ihr erstaunlich breites Grundschulhessisch durchklingen zu lassen. Etwas, das ihre Gesprächspartner üblicherweise verblüffte. »Frau Norén.«
Die Frau im Türrahmen stierte sie an. »Aber die war über achtzig.« Ein Alter, das offenbar ausschloss, dass sich die Kripo für sie interessierte.
Gegen ihren Willen musste Zhou schmunzeln. »Ich weiß«, sagte sie und setzte vorsichtshalber hinzu: »Sie hat auch nichts verbrochen.«
»Hm.« Ihre Gesprächspartnerin entspannte sich ein wenig. »Was wolln Sie denn über die wissen?«
»Frau Norén hatte einen Enkelsohn«, sagte Zhou, wobei sie die Reaktion ihres Gegenübers genau beobachtete. Doch leider schien der Frau nichts zu dämmern. »Kennen Sie den?«
»Einen Enkel? Die? Nee, nich’ dass ich wüsste.«
Zhou versuchte, nicht allzu enttäuscht auszusehen. »Darf ich fragen, wie Sie an dieses Haus gekommen sind?«
»Ganz normal gekauft haben wir’s.« Und plötzlich wieder Argwohn. »Wieso? Stimmt was nicht damit?«
»Nein, alles in Ordnung«, beruhigte sie Zhou. »Von wem haben Sie das Haus gekauft?«
»Auf jeden Fall nich’ von ihrem Enkel«, versetzte die Frau. »Zumindest nicht direkt.« Sie schlang fröstelnd die Arme um ihren voluminösen Oberkörper. »Der Verkauf lief über ein Immobilienbüro, und wir hatten eigentlich immer nur mit dem Makler zu tun. Der Preis war okay und die Courtage auch imRahmen. Also haben wir’s genommen.« Ihr Blick bekam etwas Herausforderndes. »Mehr kann ich Ihnen darüber nicht sagen.«
»Könnten Sie mir freundlicherweise die Adresse dieses Maklers geben?«
»Rühn hieß der«, antwortete die Frau. »Aber das Büro ist in Frankfurt.«
Zhou notierte sich den Namen. »Und wie lange ist das jetzt her?«
»Ziemlich genau ein Jahr und zwei Monate.«
»War zu diesem Zeitpunkt noch irgendwelche persönliche Habe von Ihrer Vorbesitzerin da?«
»Oh ja«, stöhnte die Frau, »allerdings. Als wir’s besichtigt haben, stand hier alles voller Gerümpel. Das können Sie sich nicht vorstellen!«
Doch, dachte Zhou. »Wissen Sie, was mit den Sachen passiert ist?«
»Nee, keine Ahnung. Wir haben diesem Makler-Typen gesagt, dass wir’s besenrein erwarten, wenn’s übergeben wird. Und das war es dann auch, sonst hätten wir’s gar nicht erst genommen.«
Enttäuscht steckte Zhou ihren Stift weg. »Dann vielen Dank.«
»He!«, rief die Frau ihr nach. »Wenn Sie mehr wissen wollen, fragen Sie doch mal bei der Hendgen drüben.« Ihr fleischiger Zeigefinger wies auf ein adrettes gelbes Haus auf der anderen Straßenseite. »Die steckt ihre Nase in jeden Misthaufen.«
Zhou bedankte sich abermals und machte sich auf den Weg zu dem genannten Gebäude. Noch bevor sie an der Gartenpforte war, ging die Haustür auf.
»Wollen Sie zu mir?«, fragte eine kleine, aber allem Anschein nach fitte alte Dame mit feschem Kurzhaarschnitt.
Zhou
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