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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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auf einer alten Obstkiste, direkt neben seiner eigenen. Ein letztes Mal überprüft er, ob beide einsatzbereit sind. Dann nimmt er M.s Arm …
    Em überlegte, wie viel von dem, was sie da las, tatsächlich aus den Gesprächen stammte, die Westen mit Norén geführt hatte. Und was der Psychologe selbst ergänzt hatte. Doch im Stillen tippte sie darauf, dass alles authentisch und belegt war. Eine Erkenntnis, die ihr einen leisen Schauder über den Rücken jagte.
    »Wissen Sie«, sagt Milan in einem unserer letzten Gespräche, »ich habe mich damit befasst.«
    »Womit?«, frage ich.
    »Mit dieser Zahl. Der Sieben.«
    Ich brauche eine Weile, bis ich verstehe, dass er die Minuten meint, die zwischen den Todeszeitpunkten der beiden Jungen liegen. Seiner Opfer. »Und was hast du über die Sieben herausgefunden?«
    Er sieht mich an. »Glauben Sie an Zufall, Dr. Westen?«
    Die Frage bringt mich gehörig ins Schleudern. Vor allem, weil ich ihm nichts über mich in die Hand spielen will. Nicht einmal etwas Harmloses. Glaube ich an Zufall?
    »Ich nicht«, sagt er, denn wie immer hat er nicht die Geduld, auf meine Antwort zu warten. Das ist vielleicht die einzige Blöße, die er sich gibt in diesen Monaten. Die Ungeduld und der Stolz auf sein Wissen. Er zieht ein Buch unter seiner Jacke hervor und hält es mir hin. »Fragen Sie eine beliebige Anzahl von Leuten nach einer Zahl zwischen Null und Neun«, sagter eifrig. »Und eine erstaunliche Mehrheit nennt Ihnen die Sieben.«
    Ich weiß, denke ich. Man nennt es das Blue-Seven-Phänomen, die Bevorzugung von Blau und Sieben als Lieblingsfarbe und -zahl.
    »Sie wissen davon«, analysiert Milan, messerscharf wie immer. »Aber haben Sie auch gewusst, dass keine Zahl öfter als die Sieben fällt, wenn man mit zwei Würfeln würfelt und anschließend die Augen addiert?«
    Sieben Sinne. Sieben Weltwunder. Sieben Todsünden. Ein siebenarmiger Leuchter. Sieben magere Jahre, die unweigerlich auf sieben fette folgten. Sieben, sieben, sieben …
    Em stöhnte. »Mathe war Noréns Glanzfach«, hatte Gehling berichtet, kurz bevor sie sich getrennt hatten. »In Wahrscheinlichkeitsrechnung war er schon mit vierzehn so gut, dass sein Lehrer nicht mehr mitkam.«
    »Was ist mit seiner Mutter?«, hatte sie gefragt.
    »Sie starb an Krebs, kurz nachdem er wieder normal zur Schule ging.«
    An dieser Stelle hatten sie alle aufgehorcht. »Krebs? Was für ein Krebs?«
    »Ovarialkarzinom.«
    »Wurde sie mit Carboplatin behandelt?«
    Gehling hatte genickt. »Wurde sie. Aber sie starb kurz danach.«
    »Und Marius?«
    »Kam zu seinen Großeltern nach Taunusstein und wechselte an die Leibnizschule in Wiesbaden, wo er gleich erst mal zwei Klassen übersprang. Abitur mit siebzehn. Danach verliert sich seine Spur.«
    Em hatte Gehling angesehen. »Was soll das heißen, sie verliert sich?«
    »Das heißt, dass alles, was mit dem Namen Marius Norénzusammenhängt, von diesem Zeitpunkt an ruht. Krankenversicherung. Leserausweis der Bibliothek. E-Mail-Account. Alles letztmalig benutzt im Frühsommer 2003. Und auch das Konto, auf das seine Waisenrente floss, wurde in diesem Zeitraum aufgelöst.«
    »Sind die Großeltern noch am Leben?«
    Gehling hatte bedauernd den Kopf geschüttelt. »Nein. Der Großvater starb 2004, die Großmutter letzten Winter.«
    »Sonst noch irgendwelche Verwandte?«
    »Fehlanzeige. Marius’ leiblicher Vater war Alkoholiker und hatte praktisch nie Kontakt zu seinem Sohn. Er starb im Juni 2003 an den Folgen seiner Alkoholsucht.«
    2003 …
    2004 …
    2011 …
    Frustriert schleuderte Em ›Das Ende der Niedlichkeit‹ quer über den Couchtisch und griff nach dem Foto, das sie aus der Hainaer Akte hatten. Ein dunkelblonder Junge mit stahlblauen Augen. Auf den ersten Blick nichtssagend. Auf den zweiten irgendwie unheimlich. Auch wenn Em rein äußerlich nichts fand, woran sie das festmachte. Seine Augen zumindest wirkten auf dem Foto weder dämonisch noch kalt. Nur leer.
    Wie er wohl heute aussieht?, überlegte sie.
    Milan ist äußerst begabt darin, sich auf andere einzustellen. Er zeigt jedem, der mit ihm zu tun hat, genau das, was derjenige sehen möchte. Wie ein Spiegel …

SECHS

    Stille ziemt dem kleineren Geschlechte,
    und von selber ordnen sich die Dinge.
    Laotse

Samstag, 24. November
1
    Das Haus, in dem Marius Norén mit seinen Großeltern gelebt hatte, war das letzte auf der rechten Straßenseite. Unmittelbar dahinter begann der Wald. Zhou stieg aus dem Auto und blickte an der fleckigen

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