Siebenschön
vor. »Falls er gewusst hat, dass die beiden dort verabredet waren, dann musste er zu diesem Zeitpunkt jede Minute mit Kendrichs Eintreffen rechnen.«
»Aber woher hätte er das wissen sollen?«
Zhou hob die Achseln. »Keine Ahnung.«
»17 Uhr 22«, murmelte Em. »Das heißt, er hat etwa sechs Minuten lang mit Sarah Kindle gesprochen.«
»Und ihr eine Visitenkarte dagelassen, die kurz darauf spurlos verschwunden ist«, ergänzte Zhou.
Em nickte. »Kendrich sagt, dass sie essen waren. Und anschließend noch ein paar Drinks hatten. In der Bar.«
»Genug Zeit, sich Zugang zu dem Zimmer zu verschaffen und die Karte verschwinden zu lassen.« Zhou unterdrückte ein Gähnen. »Und wie wir aus der Erfahrung mit Christina Höffgen wissen, verfügt er über die Fähigkeit, schnell und spurlos in fremde Räumlichkeiten einzudringen.«
»Dann nehme ich mir doch auch noch den Rest des Materials vor, das an dem bewussten Abend aufgezeichnet wurde«, sagte Gehling.
»Tu das«, entgegnete Em. »Auch wenn ich bezweifle, dass er sich nach diesem Patzer auf dem Gang noch mal irgendeine Blöße gegeben hat.« Ihre Augen klebten an der schemenhaften Gestalt auf dem Monitor. »Immerhin wusste er da ja schon, wo die Kameras hängen.«
14
In unseren Gesprächen zeigt Milan weder Schuldbewusstsein noch Reue. Die einzige Gefühlsregung, die er im Zusammenhang mit der Tat erkennen lässt, ist eine Art faszinierte Verwunderung darüber, dass die Todeszeitpunkte der beiden Zwillingsjungen letztendlich sieben Minuten auseinanderlagen, obwohl er penibel darauf geachtet hatte, dass die Wunden an der gleichen Stelle und exakt gleich groß waren.
Em stopfte sich ein Stück Tiefkühlpizza in den Mund, während auf der anderen Seite des Zimmers der Fernseher vor sich hin flimmerte. Sie hatte sich das Buch besorgen lassen, ›Das Ende der Niedlichkeit‹. Ein äußerst passender Titel, wie sie fand. Seither ließen sie die Zeilen, die Westen über den zwölfjährigen Marius Norén geschrieben hatte, nicht mehr los.
»Wie kann man einem solchen Kind erlauben, jemals wieder einen Fuß in die sogenannte freie Welt zu setzen?«, hatte Zhou gefragt, vorhin im Präsidium.
Und Decker hatte geantwortet: »Sie hatten keine Handhabe. Strafrechtlich war der Junge nicht zu belangen. Und die zweite Gutachterin stellte sich auf den Standpunkt, das Ganze sei letztendlich nicht viel mehr als ein außer Kontrolle geratenes Doktorspielchen gewesen. Im Ergebnis bedauerlich, aber weder geplant noch bösartig.«
Einer von diesen tragischen, dummen, unnötigen Irrtümern, die uns das Leben schwer machen, dachte Em und wandte sich wieder Westens Schilderung der grausigen Tat zu.
Nach dem Mittagessen – es gab Frikadellen mit Ketchup und Kartoffelbrei – klopft ein Nachbarsjunge an die Tür zu Milans Haus. Er will wissen,ob Milan zum Spielen rauskommt. Der Sportplatz ist gleich um die Ecke. Doch Milan will nicht spielen, zumindest nicht Fußball. Stattdessen nimmt er die Schere, mit der er seiner Mutter erst vor wenigen Wochen eine Geburtstagskarte gebastelt hat, und macht sich auf den Weg zur nahen Kindertagesstätte.
Dort im Garten spielen M. und A., die Söhne eines Arztehepaars, eineiige Zwillinge.
In unseren Gesprächen erzählt Milan, dass er lange überlegt habe, wie er sie ruhig bekomme, ohne sie aus Versehen zu früh zu töten. Schließlich entscheidet er, dass es nichts ausmacht, wenn sie schreien. Er muss sie einfach nur an einen Ort bringen, wo man sie nicht hört …
So wie Jenny Dickinson, dachte Em. Und Lina Wöllner.
Sie konnte nicht sagen, warum, aber seit sie von Norén wusste, war sie sicher, dass er der Mann war, den sie suchten. Zu ihrer Überraschung schien Zhou ganz ähnlich zu empfinden, obwohl Em geschworen hätte, dass sie eigentlich nicht der Typ war, der sich auf Instinkte verließ. Auf diffuse Ahnungen und Wahrscheinlichkeiten.
Sie schloss die Augen, als eine flüchtige Bildfolge durch ihr Bewusstsein zuckte. Finger aus Latex, die sich wie dicke weiße Raupen um den Griff eines Messers legten. Das verdutzte Gesicht von Jonas Tidorf. Dann ein Knacken, kaum hörbar, und eine Fontäne aus Blut, das aus der Kehle des jungen Studenten schoss.
Em rieb sich die Stirn und griff wieder nach dem Buch. ›Das Ende der Niedlichkeit‹ …
Milan hat alles vorbereitet. Die Kinder weinen, als sie die Schere sehen. Doch das stört ihn nicht. Alles, was ihn interessiert, ist dieStoppuhr, die er seinem Sportlehrer gestohlen hat. Sie liegt
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