Siebenschön
innerhalb bestimmter – äußerst großzügig bemessener – Geschäftszeiten jederzeit unkompliziert auf ihr Hab und Gut zugreifen. Zwar waren die Hallen videoüberwacht, doch die unbürokratische Handhabung war ein wichtiger Teil des aus Amerika stammenden Konzepts, und der Wachmann hatte bereits zugegeben, dass bei Vertragsabschluss – wenn überhaupt – allenfalls ein flüchtiger Blick auf den Personalausweis des Mieters geworfen wurde.
»Was sollte denn auch schon groß passieren?«, hatte sich der Mann, den ein Schild am Revers seiner Jacke als »E. Kuhnke« auswies, verteidigt.
»Das wollen Sie gar nicht wissen«, hatte Em ihm wütend entgegengehalten, woraufhin der Wachmann ihr eilig den Mietvertrag für die Box mit der Nummer 03 441 herausgesucht hatte.
»Keine Kopie vom Personalausweis?«, hatte Khalaf gefragt.
Und der Wachmann hatte resigniert den Kopf geschüttelt. »Das machen die hier nur in Ausnahmefällen.«
Wer immer »die« sind, hatte Em entnervt gedacht. »Ich brauche die Aufzeichnungen aus den Überwachungskameras.«
Ein beschämter Blick. »Die werden leider nach vierundzwanzig Stunden automatisch gelöscht.«
»Was ist denn das für eine elende Scheiße!«, hatte sie gewettert, und Khalaf hatte ihr beschwichtigend eine seiner kräftigen Hände auf die Schulter gelegt.
Und nun standen sie also vor dem Eisenbett, auf dem Sarah Kindle die letzten Tage ihres Lebens verbracht hatte, und betrachteten das spektakuläre Erbe, das die mutmaßliche Mörderin ihnen hinterlassen hatte.
»Wie kann der Täter das übersehen haben?«, fragte Em, während die verwischten, aber trotzdem deutlich lesbaren Buchstaben auf der Matratze unter ihrem Blick verschwammen.
Khalaf zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte er Stress.«
»Der?« Sie schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«
»Dann hat er sie vielleicht nicht ernst genug genommen. Vielleicht dachte er, sie sei von der Chemo so geschwächt, dass sie sowieso nichts unternimmt. Oder aber er hat ihr den Rücken zugedreht, um die Kamera abzumontieren.«
Ems Blick suchte den Infusionsständer, an dem noch immer eine leere Glasflasche Carboplatin hing. Oh ja, dachte sie, dieser Scheißkerl hat Sarah Kindle unterschätzt. So wie wir alle. Er dachte, dass sie träge sei. Apathisch. Faul. Aber das war nur ihre Fassade. In Wahrheit war sie eine Kämpferin. Bis zum bitteren Ende. Selbst im Angesicht des Todes, selbst als sie längst wusste, dass nichts mehr für sie zu retten ist, hat sie noch versucht, uns eine Nachricht zukommen zu lassen … Ihre Augen kehrten zu der fleckigen Matratze zurück. Sarah Kindle hatte das Wort mit dem Finger in ihr eigenes Erbrochenes geschrieben, in einem Moment, in dem ihr Mörder nicht auf sie geachtet hatte.
»PROZESS.«
Nur dieses eine Wort …
»Hast du eine Vorstellung davon, was sie uns damit sagen will?«, fragte Khalaf neben ihr.
»Ich glaube ja«, nickte Em. »Zumindest würde es zu dem passen, was dieser Mistkerl mir geschrieben hat.«
Signora Capelli, ich hoffe, Sie genießen die Umstände unseres Wiedersehens ebenso sehr wie ich …
Koss hatte recht, dachte sie. Das Wiedersehen hat er wörtlich gemeint. Und es hatte tatsächlich mit Sarah Kindle zu tun.
Er war auch beim Prozess. Er war in diesem Gerichtssaal. Dieser elende Mistkerl hat ganz in meiner Nähe gesessen. Aber ich habe ihn nicht wahrgenommen …
»Ich muss mal kurz telefonieren«, rief sie Khalaf zu.
Dann trat sie aus der Enge der Lagerbox auf den Innenhof hinaus und drückte Gehlings Kurzwahl. »Sven?«
»Ja?«
»Ich brauche alles, was im Zusammenhang mit dem Kindle-Prozessan Bildmaterial vorliegt. Insbesondere Fotos von Zuhörern, so es welche gibt. Nimm dir sämtliche Verhandlungstage vor und schau auch, ob es eventuell noch Aufzeichnungen aus den Überwachungskameras gibt.«
»Heißt das, der Täter war doch beim Prozess?«
»Ja, war er«, bestätigte Em. »Sarah Kindle hat ihn dort gesehen. Und wenn wir mal voraussetzen, dass sie ihn vorher nicht gekannt hat, dann bedeutet das entweder, dass er ausgesprochen markant ist, oder, dass er mehrmals da war, wobei ich persönlich auf Letzteres tippen würde.«
»Ich kümmer mich drum«, antwortete Gehling. »Und wo ich dich grad dranhab: Ich habe den Namen überprüft, den du mir gegeben hast.«
»Markus Beyerlein?«
»Genau. Den gibt’s tatsächlich. Allerdings lebt der echte seit drei Jahren in Florida, von wo aus er mir soeben telefonisch bestätigt hat, dass er niemals eine Lagerbox
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