Siebenschön
Dorns Laden lotsten. »Tom ist ein exzellenter Ermittler, und er wird seine Chance bekommen«, erklärte sie, als sie aus dem Wagen stiegen. »Und bis es so weit ist, arbeiten wir zusammen.« Sie fixierte Zhous Blick über das Dach des Wagens hinweg. »Es gibt kein Problem.«
4
»Herr Dorn war zutiefst beunruhigt.«
Doris Senn machte keineswegs den Eindruck, als sei sie eine Frau, die voreilige Schlüsse zog. Im Gegenteil: Sie strahlte mitjeder Faser ihres Körpers Lebensklugheit und gesunden Menschenverstand aus. Der Schock über den gewaltsamen Tod ihres Chefs stand ihr noch ins Gesicht geschrieben, doch über ihre eigenen Gefühle verlor die patente Angestellte kein einziges Wort. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Teil zur Klärung des Sachverhalts beizutragen.
Etwas, das Em durchaus imponierte. »Woraus schließen Sie, dass Herr Dorn beunruhigt war?«, hakte sie nach, wobei sie sich unauffällig in dem ordentlichen, wenn auch etwas altmodisch wirkenden Verkaufsraum umschaute.
»Er dachte natürlich, ich merke nichts«, antwortete Doris Senn, und ihre geröteten Augen nahmen auf einmal einen nachsichtigeren Ausdruck an. »Aber in letzter Zeit war er so … Er benahm sich irgendwie komisch.« Sie dachte nach. »Fast so, als ob er auf etwas wartet.«
Em wandte überrascht den Kopf. »Er wartete?«
»Ja, das war mein Eindruck.«
»Haben Sie eine Idee, worauf er gewartet haben könnte?«
Sie schwieg lange, bevor sie sich sichtlich widerwillig zu einer Antwort durchrang. »Ich habe seit heute früh pausenlos darüber nachgedacht, und ich …« Sie brach ab und seufzte wie jemand, der etwas zu tun hatte, was ihm ganz und gar gegen den Strich ging. »Ja, ich denke, es könnte vielleicht eine Todesnachricht gewesen sein.«
Neben Em wurde Zhous Haltung eine ganze Spur straffer.
Doris Senn bemerkte es ebenfalls und atmete tief durch. »Ich kannte Herrn Dorn seit über zwanzig Jahren«, erklärte sie wie zur Rechtfertigung. »Und fünfzehn davon habe ich für ihn gearbeitet.«
Em betrachtete die feinen Linien um die Augen ihres Gegenübers. Doris Senn war keine Frau, die oberflächliche Bekanntschaften hatte, erst recht nicht über Jahrzehnte hinweg. Es war also gut möglich, dass sie Dorns Verhalten richtig einordnete.
»Herr Dorn war nie ein großer Zeitungsleser«, fuhr sie fort, »auch wenn er natürlich die › FAZ‹ und die ›Rundschau‹ abonnierthatte. Aber seit Neuestem brachte er sich immer auch noch die ›Neue Presse‹ mit.«
»Und das war ungewöhnlich?«
»Sehr ungewöhnlich«, nickte Doris Senn. »Ich kam ein paarmal zufällig dazu, wissen Sie, und jedes Mal studierte er gerade die Todesanzeigen …«
»Haben Sie ihn darauf angesprochen?«, fragte Em, obwohl sie sich die Antwort denken konnte.
Doris Senns Reaktion beschränkte sich auf ein knappes Kopfschütteln. Natürlich nicht. Wofür halten Sie mich? Immerhin ging mich das nicht das Geringste an …
»Sie haben gesagt, seit Neuestem«, griff Zhou die vorausgegangene Bemerkung der Angestellten auf. »Können Sie das vielleicht ein bisschen näher eingrenzen?«
Doris Senn überlegte. »Seit zwei oder drei Wochen, würde ich sagen. Vielleicht auch ein bisschen länger.«
Theo hat versagt, echote eine Stimme hinter Ems Stirn. Ich schätze, das bedeutet, dass nummer sibn Dir gehört . Sie blickte flüchtig zu Zhou hinüber und konnte sehen, dass auch ihre Partnerin in Gedanken nachrechnete. Zwei oder drei Wochen … nummer sibn …
»Aber gestern …« Doris Senns Finger spielten mit dem Schlüsselbund, der neben ihr auf einem kleinen Tischchen lag. »Wissen Sie, gestern dachte ich wirklich, dass es damit jetzt endlich ein Ende hat.«
Em hob verblüfft den Blick. »Wieso?«
»Na, weil ein Brief gekommen ist.« Sie lächelte beinahe entschuldigend. »So eine Karte mit schwarzem Trauerrand, Sie wissen schon. Ich habe Herrn Dorn danach gefragt, und er sagte, dass ein ehemaliger Klassenkamerad von ihm gestorben sei und dass er mit dieser Nachricht gerechnet habe.«
Automatisch wanderten Ems Augen zur Bürotür, die sich ein wenig versteckt hinter einem wuchtigen Garderobenschrank befand. Laut Gerichtsmedizin lag der Todeszeitpunkt irgendwo zwischen acht und neun Uhr gestern Abend, was bedeutete, dassTheo Dorn mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu Hause gewesen war. Wenn es also eine solche Trauerkarte gegeben hatte, woran sie nicht eine Sekunde zweifelte, musste sie eigentlich noch dort sein. Im Büro …
Neben ihr war
Weitere Kostenlose Bücher