Siebenschön
entgegnete sie würdevoll. »Warum hätte er das Zeug wegwerfen sollen, wo er sich doch nicht mal von dem Türschild getrennt hat?«
Capelli grinste und verschwand im angrenzenden Schlafzimmer.
Toll, dachte Zhou. Du mich auch!
Sie stellte die Pfanne, die sie noch immer in der Hand hielt, an ihren Platz zurück und wandte sich dem Büfettschrank im Essbereich zu. Sie war ein Mensch, der jede Form von Abweichung, auch zufällige, auf den ersten Blick registrierte. Ein Bilderrahmen, der ein wenig anders stand als die übrigen. Jemand, der als Einziger in einer Gruppe von Menschen mit dem linken Bein losging, statt wie alle anderen um ihn herum das rechte zu nehmen. Solche Dinge.
Sie war sich bewusst, dass sie ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet in erster Linie ihrer Erziehung verdankte, denn die war weit mehr als bei den meisten anderen Kindern von Symmetrie geprägt gewesen. Klassische Musik. Klassischer Tanz. Vier Takte zu je acht Schlägen. Das schulte nicht nur Auge und Gehör, sondern machte auch anfällig für jede Form von Dissonanz. Von Bruch. Von Asymmetrie.
»Ich wette tausend zu eins, dass Dorn gestern auf Post vonunserem Täter gewartet hat«, rief Capelli aus dem Schlafzimmer, während Zhous Augen an zwei metallenen Bügeln hängen blieben, die über die Oberkante der geöffneten Küchentür ragten. Vermutlich von einer Hänge-Aufbewahrung auf der Rückseite.
Sie ging hin und sah nach. Die gestreiften Einstecktaschen enthielten nichts als Küchenaccessoires. Schaumkelle, Korkenzieher, Salatbesteck. Nichts, das irgendwie verdächtig gewesen wäre. Sie wollte sich eben wieder dem Büfett zuwenden, als sie erneut Capellis Stimme hörte. Und dieses Mal klang sie alles andere als gelangweilt.
»Gottverdammte Scheiße, ich glaube, ich hab’s gefunden!«
Zhou legte die Schaumkelle zur Seite und stürzte zu ihrer Kollegin ins Schlafzimmer. »Was haben Sie gefunden?«
Anstelle einer Antwort hielt Capelli ihr zwei handgeschriebene Briefkarten unter die Nase, und die Aufregung ließ ihre Wangen ein ganzes Stück blasser aussehen, als sie eigentlich waren.
Zweite Chance, Theo , las Zhou auf dem teuren Papier. Die gleiche Qualität wie die Karte, die Christina Höffgen erhalten hatte.
Zweite Chance, Theo: Das loiserl ging allein in’ Wald und hat kein Dach mehr überm Kopf. Unglaublich, nicht wahr, dass es ausgerechnet einer, der das Gesetz sogar in seinem Namen trägt, so wenig für nötig hält, sich auch daran zu halten. Aber wie heißt es doch so schön: ajin tachat ajin …
»Mein Hebräisch ist nicht besonders«, sagte Zhou, und ihr fiel selbst auf, dass ihre Stimme leise zitterte, »aber ajin tachat ajin bedeutet so viel wie Auge um Auge.«
Capelli nickte nur.
Im Unterwald, nahe des Flughafens, ist ein Hochsitz, las Zhou weiter . Du weißt schon, so ein Ding für die Jagd. Nimm die B 40 und von dort die Alte Mainzer Schneise, dann kommst Du direktauf einen Parkplatz zu. Von dort sind es rund dreihundert Meter, westwärts. Aber mit ein bisschen Orientierungssinn, wirst Du das arme loiserl schon finden. Halali, alter Freund!
»Er hat Theo Dorn also tatsächlich kontaktiert und zu einem bestimmten Ort geschickt«, resümierte sie, als sie fertig war. »Genau wie gestern Christina Höffgen.«
»Sieht so aus.«
»Aber …« Sie sah Capelli an. »Im Gegensatz zu Christina ist Dorn offenbar nicht hingegangen, oder?«
»Nein, ist er nicht«, bestätigte ihre Kollegin. »Sehen Sie sich das hier mal an!« Sie reichte Zhou eine zweite Karte.
Theo, Theo, theo … Was soll ich nur mit dir machen? Dass Wegschauen niemals eine Lösung ist, sollte einer von deiner Sorte doch wohl am besten wissen! Doch aller guten Dinge sind drei, heißt es nicht so? Und wer weiß, vielleicht weckt eine so genannte dame deine Beschützerinstinkte eher als die beiden bösen buben vor ihr. Also, alter Freund: Auf zu lina, und wenn du schnell bist, hast du vielleicht sogar die Chance, sie noch lebend anzutreffen. Gemarkung Liederbach, die alte Scheune, die man sieht, wenn man die A 66 stadtauswärts fährt. Auf bald!
»Ich schätze, ich rufe jetzt mal die Kollegen an«, sagte Capelli, als ihre Partnerin auch diese Karte gelesen hatte. »Die Ortsangaben scheinen ja ziemlich präzise zu sein.«
»Ja«, nickte Zhou. »Er will, dass seine Opfer gefunden werden.«
Ihre Partnerin bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Noch wissen wir doch gar nicht, ob es tatsächlich weitere Opfer gibt …«
»Zweifeln Sie daran?«
Capelli
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