Siebenschön
dieser Art von Gedankenspielen fand.
Gehling wischte ein paar Soßenspritzer von der Tischplatte. »Da haben wir eine Schachfigur …«
»Nicht irgendeine Schachfigur«, fiel Em ihm ins Wort, »sondern einen Bauern.«
»Und das heißt …?«
»In Lina Wöllners Tasche befand sich ein Bauer. Der Tatort ist eine Scheune. Und die Leiche war mit einer Substanz bedeckt, die das Labor als Sirup von Zuckerrüben identifiziert hat, also von klassischen Feldfrüchten.«
Zhou verstand sofort. »Damit hätten wir, grob gesagt, dann also die Themenkreise Magie und Landleben abgedeckt«, schloss sie. »Und bei Berneck ist es die Jagd.«
»Bringt uns das irgendwas?«, stöhnte Gehling.
»Keine Ahnung«, sagte Em. »Aber vielleicht helfen uns ja die Zahlen weiter.«
»Was für Zahlen?«
»Wir wissen, dass er die Abstände verkürzt. Und zwar von Mord zu Mord jeweils um einen Tag.«
»Ein klassischer Countdown«, nickte Decker. »Der, wenn der Täter seinem Muster treu bleibt, am achtzehnten Dezember endet …«
Zhou schlang die Finger ineinander. Em war aufgefallen, dass sie keinen Schmuck trug, nicht einmal eine Kette. »Was ist denn da?«
»Am achtzehnten Dezember?«
Sie nickte. »Der Täter ist hochorganisiert und verfolgt ganz offenbar einen sehr konkreten, bis ins letzte Detail ausgefeilten Plan. Aber jede Dramaturgie steuert unweigerlich auf einen Höhepunkt zu. Ein Finale.«
»Der achtzehnte Dezember ist genau sechs Tage vor Heiligabend und neun Tage nach Beginn des jüdischen Chanukka-Festes«, erklärte Gehling, der bereits wieder sein iPhone befragt hatte. »Bei Chanukka handelt es sich um das sogenannte Lichterfest zum Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem. Es beginnt am fünfundzwanzigsten des Monats Kislew, dem neunten Monat des religiösen jüdischen Kalenders, und dauert acht Tage …«
»Das Datum könnte aber theoretisch auch nur für den Täter selbst eine Bedeutung haben«, gab Decker zu bedenken. »Oder aber er fängt einfach wieder von vorn an, sobald er bei null angekommen ist …«
Em hob wie elektrisiert den Kopf. »Was hast du gesagt?«
»Was meinst du?«
»Was du da gerade gesagt hast, will ich wissen.«
Decker war verwirrt. »Dass der Täter theoretisch auch von vorn anfangen könnte, nachdem er bei null angekommen ist …«
»Scheiße!«, rief Em inbrünstig und so laut, dass selbst der Mann am Wok erstaunt herübersah.
»Was ist?«, fragte Decker, doch anstelle einer Antwort zerrte Em eine alte Quittung aus der Tasche und schrieb die Zahlenvon zehn bis null auf die Rückseite. Unmittelbar neben die Zehn schrieb sie: »Jonas Tidorf«, neben die Neun »Alois Berneck«, neben die Acht »Lina Wöllner« und neben die Sieben »Jenny Dickinson«.
Zhou, die ihr verstohlen zugesehen hatte, öffnete den Mund.
Em registrierte ihre Fassungslosigkeit und nickte zufrieden. »Voilà«, sagte sie, indem sie einen dicken Kringel um Jenny Dickinsons Namen zog und den Zettel anschließend Decker und Gehling hinhielt. »Da haben wir unsere Nummer sibn !«
»Emilia Capelli, du bist ein Genie!«, rief Decker.
»Ja, ich weiß.« Sie lachte. »Ein Countdown ist klassischerweise absteigend«, erklärte sie dann, an Zhou gewandt. »Aber die Anzahl der Opfer steigt von Mord zu Mord an.«
Zhou lächelte. »Das hatte ich verstanden. Danke.«
Autsch, dachte Em. »Unser Problem ist, dass der Täter bereits morgen wieder zuschlägt, wenn wir ihn nicht stoppen.«
»Wie denn?«, sagte Gehling. »Wir haben doch keinen blassen Schimmer, wer das nächste Opfer sein wird.«
»Jemand aus Westens Umfeld«, sagte Zhou, und Em war überrascht, dass ihre Partnerin sich zu einer solchen Spekulation hinreißen ließ.
»Leider ist das Leben dieses Mannes ein Fass ohne Boden«, entgegnete sie. »Patienten. Ehemalige Patienten. Studenten. Kursteilnehmer. Leute, denen Westen im Zuge seiner Gutachtertätigkeit begegnet ist. Von seinem Privatleben ganz zu schweigen.« Sie seufzte. »Selbst wenn wir uns auf die Gesprächsgruppe beschränken, der Berneck und Tidorf angehörten, sind das leider immer noch siebzehn Personen.«
»Das ist zu viel«, sagte Decker.
Gehling steckte sein iPhone weg. »Und jetzt?«
»Wir müssen unbedingt klären, ob Lina Wöllner von irgendwem ganz gezielt auf die Idee gebracht wurde, auf Westen loszugehen.«
»Dann reden wir am besten noch mal mit ihrer Familie«, sagte Zhou.
Em blickte sich nach der Kellnerin um. »Und Westens Sekretärin nehmen wir uns auch vor.
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