Siebenschön
Vielleicht haben wir Glück, und sie war Zeugin der Begegnung zwischen Lina Wöllner und Westen und kann uns irgendwas verraten, was wir noch nicht wissen.«
»Einverstanden. Wo fangen wir an?«
»Bei Lina Wöllners Mann«, entschied Em.
»Na, dann mal los«, sagte Decker. »Ich zahle.«
2
Die Phasen, in denen sie schlief, wurden von Tag zu Tag länger. Aber noch wollte Sarah nicht aufgeben. Sie wusste, aufgeben bedeutete den Tod. Und noch war sie nicht bereit, in den Tod zu gehen. So einfach war das.
Also versuchte sie, bei Bewusstsein zu bleiben. So oft wie möglich. Trotz der Übelkeit. Und trotz der Schmerzen, die in Wellen kamen und ihren Körper hin und her warfen, so weit die Gurte dies zuließen.
Der Mann, der sie hierhergebracht hatte, kam regelmäßig und hängte eine neue Flasche an.
Nach der zweiten hatte Sarah plötzlich eine leichte Übelkeit verspürt. Nach der vierten hatte sie sich zum ersten Mal übergeben müssen. Inzwischen erbrach sie sich regelmäßig, auch wenn schon lange nichts als Galle aus ihr herauskam. Aberwitzig winzige Mengen, die keine Linderung brachten und sie trotzdem eine Heidenkraft kosteten.
Die Haut rund um die Kanüle war tiefrot und heiß, ihr rechter Arm mittlerweile bis hoch zur Achsel angeschwollen. Sie hatte eine Entzündung, kein Zweifel. Und dem Ausmaß ihres Frierens nach zu urteilen, hatte sie auch mindestens vierzig Grad Fieber.
»Was ist das für ein Zeug, das Sie mir da geben?«, hatte sie ihn gefragt. Wieder und wieder.
Doch er hatte ihr nie geantwortet.
Ein paarmal hatte er die Flasche so aufgehängt, dass das Etikett zu ihr zeigte. Und soweit sie das beurteilen konnte, gab er ihr immer dasselbe. Ein Medikament namens »Carboplatin« der Firma Hexal, in einer Dosierung von 600 mg. Wozu es diente, konnte sie nicht sagen. Nur, dass er sie langsam, aber sicher damit umbrachte.
»Warum?«
Auch so eine Frage, die sie oft wiederholte. Praktisch immer, wenn er bei ihr war.
Erstaunlicherweise brachte er sie nie zum Schweigen. Ihr Gerede schien ihn weder zu stören noch zu beeindrucken. Aber er reagierte auch nicht.
Manchmal spielte er Musik, wenn er bei ihr war. Die Platte mit dem Schlager. Bei mir bist du schön.
Auch danach hatte sie ihn gefragt. Doch auch dazu hatte er sich nicht geäußert.
In den langen Phasen zwischen Traum und Wachen hatte sie ihre Erinnerung durchforstet. Nach Gründen gesucht. Nach einem Motiv. Und sogar nach diesem blöden Schlager, den sie inzwischen auswendig kannte. Aber sie war nicht fündig geworden.
Der einzige Mensch, der einen Grund gehabt hätte, mir das hier anzutun, ist tot.
Daran gibt es nicht den Hauch eines Zweifels.
Also hielt sie durch, irgendwie. Sie schlief, kotzte, dachte nach. Schlief wieder ein.
Das alles ergibt keinen Sinn, sagte sie sich, wenn sie wach war. Wenn es nicht um Geld ging – und es ging gewiss nicht um Geld, sonst würde er sich längst grundlegend anders verhalten –, wenn es also nicht um Geld ging, dann musste es zwangsläufig um etwas anderes gehen. Denn niemand tat einem anderen Menschen derlei Dinge an, ohne einen konkreten Grund zu haben.Und würde man denn nicht wollen, dass der andere, dass das Opfer diesen Grund kannte?
Die Neonröhre über ihrem Kopf brannte rund um die Uhr, und Sarah erinnerte sich daran, dass sie während ihrer Haftzeit Geschichten gehört hatte. Beunruhigende Geschichten von Zellen, in denen das Licht niemals ausging. In denen es keinen Tag gab, keine Nacht und keinen Wandel. Nur kahle Wände, eine nackte Pritsche und Licht …
Sie hustete trocken. Aus der Dunkelheit hinter dem Licht schwammen Bilder auf sie zu. Bizarre Schatten. Tiere. Aber auch Sequenzen von früher. Die Villa. Der bunte Seidenschal, den Manuel ihr geschenkt hatte. Ihr Ehebett.
Ich werde verrückt, dachte sie. Irre. Wahnsinnig. Sie zwang sich, die Augen zu schließen, um die Bilder auszusperren, doch es wollte ihr nicht recht gelingen.
Sarah!
Erschreckt riss sie die Augen wieder auf und entdeckte ihren verstorbenen Mann. Er stand in der Ecke neben der Musiktruhe und blickte unverwandt zu ihr herüber.
Sieh nicht hin!, dachte sie panisch.
Er ist nicht da. Er kann gar nicht da sein. Er ist tot. Du selbst hast ihm die Waffe an die Schläfe gehalten. Du selbst hast ihm eine Kugel in den Kopf gejagt. Du hast gesehen, wie die Wucht des Schusses seinen Kopf zurückgeworfen hat. Du warst auf seinem Begräbnis. Du hast eine Rose auf seinen Sarg geworfen. Du hast seinen Töchtern in die Augen
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