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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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immer hold?
     
    Bilodo fühlte sich von dem direkten Tonfall des Haiku stark angesprochen und erschrak über die offenkundige, nahezu greifbare Besorgnis. Ségolène war an eine größere Pünktlichkeit seitens ihres Briefpartners gewöhnt und machte sich wegen dessen Schweigen offensichtlich Gedanken; die Arme befürchtete, ihm auf irgendeine Weise zu nahe getreten zu sein. Bilodo malte sich aus, wie beunruhigt sie beim Verfassen des Gedichts und wie sorgenvoll ihr schönes Gesicht gewesen sein musste, als sie sich daranmachte, etwas so Vollkommenes zu erschaffen. Die Vorstellung einer in Angst und Schrecken versetzten Ségolène war ihm unerträglich, und er verspürte das dringende Bedürfnis zu handeln. Es galt, ihr schnellstens zu antworten, um sie zu beruhigen und wieder zum Lächeln zu bringen. Bilodo musste seine Bedenken aufgeben und endlich dieses verflixte Haiku fabrizieren.

10
    Das frisch gesäte Gras füllte die Zwischenräume auf Gaston Grandprés Grab nur spärlich aus. Bilodo verharrte andächtig. In der Hoffnung, an das, was vom Verstorbenen noch vorhanden war, wie etwa seine noch nicht entschwundene Seele, zu appellieren, schilderte er stumm Ségolènes Besorgnis, die Dringlichkeit der Situation, und betonte die Lauterkeit seiner Absichten, die Aufrichtigkeit seiner Gefühle. In aller Bescheidenheit erzählte er dem unter der Erde Ruhenden von seinen Bemühungen, dessen Werke zu imitieren, und flehte ihn demütig an, ihn zu erleuchten: Was konnte er nur tun? Gab es irgendeine Geste zu vollführen, irgendein Opfer auf sich zu nehmen, irgendeinen Schlüssel, den er noch nicht in das komplizierte Schloss jener Tür gesteckt hatte, die ihm den Zugang zur Poesie verwehrte?
    Bilodo kniete auf dem feuchten Rasen und wartete, lauschte gespannt, ohne dass aus dem Grab irgendeineErleuchtung kam, irgendeine Stimme ertönte. Der Verstorbene hatte ihm offenbar keinen Rat zu geben. Und dennoch   …

    Gleichsam als Antwort auf seinen Friedhofsbesuch träumte Bilodo in der folgenden Nacht von Grandpré. Er träumte, er würde erwachen und an seinem Bett stünde Grandpré in seinem roten Kimono. Der Geist lächelte trotz des Blutes auf seiner blassen Stirn, trotz des ungeordneten Haars. Immerzu lächelnd bewegte er sich wie auf Kugellagern durch den Raum, zum Schrank, öffnete dessen Tür und wies auf das oberste Fach   …
    Bilodo erwachte wirklich, jedenfalls theoretisch. Er fragte sich, ob es sich nicht um das Fraktal eines tieferen Traums handelte und er nur träumte, dass er erwachte, oder ob es dieses Mal wirklich real war, und stellte dann fest, dass nirgendwo ein geisterhafter Grandpré zu sehen war, woraufhin er sich für die zweite Möglichkeit entschied. Er blickte zum Schrank und musste an die Handbewegung des Geistes denken, mit der jener auf das Fach gewiesen hatte. Natürlich handelte es sich nur um einen Traum, doch Bilodos Neugier war einfach zu groß, und so beschloss er, für alle Fälle nachzusehen. Er öffnete den Schrank. Das obere Fach war hoch und tief. Bilodo streckte die Hand aus und tastete mit den Fingerspitzen im leeren Raum. Er berührte etwas. Eine weit hinten verstaute Schachtel. Verblüfft zog er sie zu sich heran. Es wareine ziemlich große, nicht sehr schwere, schwarze Pappschachtel, die mit japanischen Ideogrammen verziert war. Bilodo legte sie auf das Bett und nahm den Deckel ab. Darin lag ein in feines Seidenpapier eingeschlagener roter Kimono.

    Der Kimono war offenbar noch ungetragen. Bilodo holte ihn aus der Schachtel und faltete ihn auseinander. Der Stoff schimmerte seidig. Ein schönes Kleidungsstück. Bilodo gab dem Verlangen nach, es überzuziehen, und stellte erstaunt fest, dass er sich darin rundum wohlfühlte. Er machte ein paar Schritte und drehte sich um die eigene Achse, um zu sehen, wie leicht der Kimono war. Er ließ das seidene Gewand herumwirbeln, wobei er sich ein wenig wie Lawrence von Arabien in seinem ersten Emirkostüm fühlte, und bewunderte sich im Spiegel. Das Kleidungsstück schmiegte sich an ihn. Als sei es eigens für ihn geschaffen. Bilodo fühlte sich wie elektrisiert. Als würde ein leiser Strom durch seine Nerven fließen und ihn überall kitzeln. Einem Impuls folgend, verließ er den Raum, betrat das Wohnzimmer, setzte sich an den Schreibtisch, legte ein leeres Blatt vor sich, griff nach einem Kugelschreiber und platzierte dessen Spitze auf dem Papier. Und da geschah das Wunder. Die Kugel des Stiftes begann über das Blatt zu gleiten und

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