Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
gekommen war, Ségolène zu antworten. Dann brauchte er nur das wundersame Kleidungsstück anzulegen, schon flog seine Seele von dannen, schoss los wie eine Rakete, und er wurde von Farben und Visionen überflutet. Bilodo hatte sich am Ende gegen jegliche übernatürliche Erklärung des Phänomens gesträubt. Er befand, sein Traum von Grandpré als Geist und die Entdeckung des Kimonos seien lediglich ein glücklicher Zufall gewesen, und alles Übrige sei Ausdruck des Unbewussten. Außerdem wollte er der Frage nicht weiter nachgehen, aus Angst, dass zu viel Neugier seinen Schaffensdrang bremsen und der Poesie schaden könnte. Ihm war die eigentliche Ursache des Wunders eher unwichtig, wenn es nur funktionierte und er weiterhin an Ségolène schreiben und von ihr träumen könnte, wie sie am Ufer des trägen Baches Flöte spielte und die Schlangen beschwor, wie auf dem Gemälde desDouanier Rousseau, um dann auf einem Lager aus Grün einzuschlummern, während die wilden Blumen sie mit ihren lebendigen Blättern umhüllten und die Tiere des Waldes über sie wachten.
Frühmorgens erspäht
durch halb offene Lider –
schillernde Formen
Die Blume steigt auf
aus dem Haar einer Marktfrau
schöner Schmetterling
Scharen von kleinen Monstern
auf dem Bürgersteig
zur Halloweennacht
Ein scheuendes Pferd
als sei’s vom Blitz getroffen –
was hat es denn nur?
Pfützen aus Kristall
knisterndes Gras unter mir
ein neuer Winter
Die Katze schnurrt auf dem Bett
vor ihrer Nase
huscht die Maus vorbei
Perfekte Schönheit
göttliche Architektur
einer Schneeflocke
Riesige Rücken
wühlen das Meer auf
die Pottwale tummeln sich
Sie schwamm ausgelassen, gewaltig und doch ganz leicht. Ihr dunkler, stromlinienförmiger Körper wogte anmutig und zeichnete sich im Gegenlicht auf der schillernden Leinwand der Wasseroberfläche ab, während er den glitzernden Vorhang streifte und gelegentlich mit dem Rücken aufschlitzte. Sie schwamm und sang, sie erfüllteden Ozean mit ihren Stimmübungen, denn sie war ein Wal. Und er auch. Sie waren Wale und schwammen gemeinsam an einen Ort, der keinen Namen hatte oder einfach nur »Nirgendwo« hieß, in die Ferne der blauen Unendlichkeit. Sie hatten keine Eile. Sie ließen sich Zeit, schwebten durch eine Dämmerung, vor der das Licht ängstlich zurückschreckte. Sie jagten ein wenig und ließen sich dann, der Strömung vertrauend, von ihr tragen. Sie tauchten von Zeit zu Zeit auf, um einen Geysir aus jodhaltigem Dampf hervorzustoßen und tief Luft zu holen, um sich eine Weile von den Wellen wiegen zu lassen und dann wieder in die wohlige Tiefe abzutauchen.
Es war schön, ein Wal zu sein. Es war schön, mit ihr zusammen zu sein, mit ihr allein zu sein und miteinander frei zu sein. Hätte er die Wahl gehabt, wäre er lieber der Ozean gewesen, um Ségolène noch inniger zu umarmen, sie überall auf einmal in seine unendlichen Wasserarme zu schließen und für immer über ihre Haut zu gleiten, aber dennoch war es schön, ein Wal zu sein. Das war schon viel, Hauptsache, sie war da und sie konnten gemeinsam der Zeit entrinnen.
Plötzlich lotete sie die Tiefe aus. Sie tauchte ab, floh das Licht. Hatte sie irgendeine köstliche Beute entdeckt? Wollte sie den Dingen auf den Grund gehen, irgendein unbekanntes Wrack erkunden oder spielte sie bloß Verstecken? Er folgte ihr, stellte ihr mit kräftigen Flossenschlägen nach; er würde sich nicht einfach abhängen lassen. Er tauchte ihr hinterher, dorthin, wo die Dunkelheitimmer dichter wurde, einen umhüllte, immer enger, immer kälter umschloss. Schon konnte er sie nicht mehr sehen, doch spürte er die Schwingungen der von ihr verdrängten Wassermassen und hörte sie in der nahen Finsternis singen. Sie rief. Sie rief
ihn
, und er antwortete, ebenfalls singend, denn so kommunizierte man als Wal miteinander; man sang ins Nichts, ohne sich vor dem immer dichteren, immer finstereren Dunkel zu fürchten.
12
Ein rufendes Kind
schwenkt seinen Schläger
es hat ein Tor geschossen
Das Mädchen schreit auf
Über das Fensterbrett läuft
ein Tausendfüßler
Auf der Leine hängt
die Wäsche und friert
Spatzen hocken fröstelnd da
Nachbarin Aimée
im geblümten Kleid ist sie
zum Begießen schön
Der Januar trieb sein Unwesen. Bilodo wohnte schon seit drei Monaten bei Grandpré. Er fühlte sich dort inzwischen ganz und gar zu Hause, dachte jedoch nach wie vor »bei Grandpré«, aus Reflex, aber auch aus
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