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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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beschrieb es mit einer seismographischen Serie von Wörtern. Träumte Bilodo noch immer? Plötzlich hatte er eine Erleuchtung.Als würde in ihm ein Deich nachgeben, ein stockender Motor endlich laufen. Lauter Bilder drängten sich an der Pforte seines Bewusstseins, prallten wie Billardkugeln gegeneinander.
    Eine Minute später war alles vorbei: Die rätselhafte Kraft war von Bilodo gewichen, hatte ihn verstört und erschöpft zurückgelassen. Vor ihm lag ein Haiku. Es hatte sich wie von selbst geschrieben, in einem Zug, ohne eine einzige Korrektur, ohne dass sich das Bewusstsein eingeschaltet hätte, in einer Handschrift, von der man hätte schwören können, dass sie die Grandprés war:
     
    Wie ewiger Schnee
    erhaben und beständig
    ist meine Freundschaft
     
    Bei dem Versuch, sich das soeben Erlebte zu erklären, dachte Bilodo an ein konditioniertes Phänomen, bei dem die Entdeckung des Kimonos als Katalysator gewirkt hatte. Dass er sich das Kleidungsstück angezogen hatte, symbolisch in Grandprés Haut geschlüpft war, hatte wahrscheinlich den kreativen Prozess ausgelöst, den er seit Tagen in Gang zu bringen versuchte. Oder handelte es sich um Spiritismus? War er vorübergehend besessen gewesen? Hatte Grandprés Geist seinen Wunsch erhört und war ihm auf diese Weise zu Hilfe gekommen? Bilodowar zu aufgewühlt, um das zu entscheiden. Allein das Gedicht zählte: Ob unter Einfluss oder nicht, er hatte soeben das seiner Meinung nach erste wirklich gute Haiku seines Lebens geschrieben. Würde es Ségolène ein Trost sein? Würde es ihr gefallen?
    Bilodo faltete das Blatt und steckte es in einen Umschlag, doch als er diesen schließen wollte, zögerte er, ein letztes Mal hin und her gerissen: Sollte er dem Haiku jenes stilisierte »O« hinzufügen, das Grandpré überall zu hinterlassen pflegte? Handelte es sich um eine Art Unterschrift oder ein graphisches Zeichen, dessen Fehlen womöglich Verdacht erregen könnte? Um das herauszufinden, hätte man die früheren Sendungen des Verstorbenen überprüfen müssen; einmal mehr machte sich der Verlust seines letzten Briefes auf schmerzliche Weise bemerkbar. Bilodo nahm schließlich das Risiko auf sich, darauf zu verzichten, schloss den Umschlag und beeilte sich, ihn einzuwerfen, bevor er es sich anders überlegen würde.
    Das Haiku würde in fünf bis sechs Tagen bei Ségolène eintreffen und eine Antwort von ihr würde mindestens genauso lange brauchen. Vorausgesetzt sie antwortete, der Betrug würde nicht aufgedeckt werden, die Strategie ginge auf.

    Der Brief traf elf Tage später ein. Bilodo hatte ihn mit aller Inbrunst herbeigesehnt, inständig gebetet, nicht gewagt, nach seiner Feder zu greifen oder den Kimono anzuziehen,um nur ja nicht das zerbrechliche Gleichgewicht des Schicksals zu stören, doch dann war er endlich da, in seinen Händen, während er zur Salzsäule erstarrt in seiner Sortierzelle im Briefzentrum stand. Weil er unmöglich warten konnte, eilte er zu den Toiletten, sperrte sich in der hintersten Kabine ein, riss den Umschlag auf und las:
     
    Ihr steilen Gipfel
    empfangt den huldvollen Gruß
    eines Bergsteigers
     
    Bilodo sah sich plötzlich in eine Himalaya-Szenerie à la ›Tim und Struppi in Tibet‹ versetzt. An einen Fels geklammert, befand er sich auf halber Höhe eines von einer unberührten, im grellen Sonnenlicht blendend weißen Schneeschicht bedeckten steilen Abhangs, während vor ihm in der Ferne, doch in der dünnen Luft greifbar nah, der Gipfel emporragte, der sich deutlich vor dem tiefblauen Himmel abzeichnete, argwöhnisch, gebieterisch in seiner spröden Majestät   … Bilodo fühlte sich, während er zum ersten Mal nach viel zu langer Zeit Ségolènes Worte auskostete, neu belebt, stark wie ein Yeti. Es wirkte wie eine Transfusion nach einer starken Blutung, wie ein Stoß Sauerstoff im Augenblick des Erstickens. Er frohlockte auf der Toilette.
    Es hatte funktioniert! Sie hatte es geglaubt!

11
    Manch ein schroffer Berg
    träumt heimlich davon
    dass man ihn endlich besteigt
     
    Spielen die Starken
    in ihrem Lawinenkleid
    doch ihr Herz ist weich
     
    Sie fürchten sich nachts
    weinen so allein
    Wasserfälle aus Tränen
     
    So entstehen die
    Seen in den Bergen
    in der eisigen Stille

    Bilodo hätte nicht sagen können, was ihm zum Glück noch fehlte. Was wünschte er sich mehr? Der Kimono im Schrank wartete auf ihn, doch hütete er sich davor, ihn zu missbrauchen; er ging sparsam mit ihm um und zog ihn nur über, wenn der Moment

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