Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Respekt demjenigen gegenüber, dem er sein ganzes Glück verdankte. Er suchte seine alte Dreizimmerwohnung nur noch gelegentlich auf, um die spärliche Post zu holen und von seinem Anrufbeantworter die schlüpfrigen Anträge zu löschen, die nach wie vor hereinfluteten. Seine Möbel und ein Großteil seiner Habseligkeiten befanden sich noch immer dort. Er hatte so gut wie nichts mitgenommen zu Grandpré, um die angenehme fernöstliche Atmosphäre nicht zu stören. Er hätte die nunmehr nutzlose Wohnung untervermieten können, hatte sich jedoch dagegen entschieden, da diese offizielle Adresse ihm zugleich als Tarnung und als Alibi diente und ihm erlaubte, die Zurückgezogenheit jenes zweiten Lebens, das er in seinem Refugium in der Rue des Hêtres führte, zu wahren; so musste er weder lästige Besucher noch Roberts unpassende Überfälle fürchten. Bilodo hatte nichts erzählt, und die bloße Vorstellung, wie der Postbeamtemit seinen riesigen Stiefeln in die stille Behaglichkeit seines japanischen Heiligtums eindrang, ließ ihn erschauern. Robert war nicht dumm und ahnte natürlich etwas. Ihm kam es eigenartig vor, dass Bilodo weder ans Telefon ging noch, wenn er bei ihm vorbeischaute, je anzutreffen war. Roberts Fragen wurden ihm allmählich unangenehm, und Bilodo fiel es immer schwerer, ihnen auszuweichen.
Abgesehen von Roberts Indiskretion störte nichts dieses zurückgezogene, ganz und gar auf Bilodos imaginäre Romanze ausgerichtete Leben. Tania versäumte im »Madelinot« nie eine Gelegenheit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln und sich nach dem Fortschritt seiner Recherchen zur japanischen Dichtkunst zu erkundigen. Bilodo hatte sich nämlich angewöhnt, nach dem Dessert seine restliche Mittagspause der Überarbeitung an Ségolène gerichteter Haikus zu widmen, und neugierig, wie sie war, fragte Tania ihn häufig, was er da schreibe, ob sie es lesen dürfe. Er schlug ihre Bitte so höflich wie möglich aus, unter dem Vorwand, es sei zu persönlich, aber die junge Kellnerin zeigte sich weiterhin sehr an seinem Tun interessiert, was ihn durchaus rührte. Es tat ihm leid, Tania immer wieder zurückweisen zu müssen. Um ihr eine Freude zu machen, versprach er ihr, eines Tages ein Haiku speziell für sie zu verfassen, was sie überglücklich zu machen schien.
Sonst begegnete Bilodo so gut wie niemandem. Mit Madame Brochu tauschte er gelegentlich ein paar Höflichkeitenaus, die seit einem kürzlichen Vorfall allerdings deutlich knapper ausfielen: Seine Vermieterin war, als sie an seine Tür klopfte, um ihn zu bitten, die Lautstärke seiner chinesischen Musik ein wenig zu dämpfen, sichtlich schockiert gewesen, ihn in Grandprés Kimono anzutreffen. Seitdem verhielt sie sich weniger zuvorkommend und musterte Bilodo mit misstrauischen Blicken. Er konnte es ihr nicht verdenken. Sein Verhalten wirkte, von außen betrachtet, gewiss befremdlich. Von innen betrachtet übrigens auch: So wie er in der Haut und Unterwäsche eines anderen zu leben, zeugte zweifellos von einem hohen Grad an Exzentrik. Diese bizarre Wirkung nahm er jedoch bereitwillig in Kauf, ganz gleich, was man davon halten mochte: Wichtig war allein, die innere Logik nicht aus den Augen zu verlieren.
Sieh den Wanderer –
morgens lag er auf der Bank
ganz steif gefroren
La Soufrière
in den Wolken versunken
tief in Gedanken
Es schneit pausenlos
schon dreißig Zentimeter
Schneefräsen in Not
Vidé touloulou
Es ist Grand brilé Vaval
Ti-Punsch in Strömen
»Vidé« bedeutete im Kreolischen Parade, Umzug, denn auf Guadeloupe war es ebenfalls Ende Februar, also Karnevalszeit. Touloulou war ein Ball, bei dem die Damen das Privileg genossen, ihren Tanzpartner selbst auszuwählen, während mit Vaval der Karnevalskönig, das lokale Maskottchen, gemeint war. Beim »Grand brilé« handelte es sich um eine populäre Zeremonie am Abend des Aschermittwochs, die mit der Verbrennung des armen Vaval unter Geschrei und Wehklagen der hysterischen Menge den Karneval beendete. Was den Ti-Punsch betraf, der in Strömen floss, so konnte man sich leicht vorstellen, was damit gemeint war. Bilodo nahm an, dass das Ganze dem Karneval von Québec ähnelte, nur um einige Grade gesteigert.
Um Ségolènes ausgelassene Stimmung zu teilen und ihr zu beweisen, dass das hiesige Kreolisch nicht wenigerpittoresk sei als das bei ihr Gesprochene, schickte er ihr eine klangvolle Antwort:
Schnapp dir die Dicke
tanz mit ihr den wilden
Weitere Kostenlose Bücher