Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
kauen.
Mama, hör auf, den armen Papagei zu quälen, es ist nicht seine Schuld, dass unser Leben so beschissen ist!
Livia hob mir ihr ausgemergeltes Gesicht entgegen, das ebenfalls leeds-grau war. Sie bleckte einen Friedhof aus ebenfalls leeds-grauen Zähnen, die aber auch ein wenig gelb waren. Knurrte sie oder lächelte sie?
Ich lief zu der immer noch offenen Tür zurück, denn meine Großmutter war unsere einzige Rettung. Ich rief sie ohne Stimme, als könnte sie mich noch hören, dabei war sie schon zu weit weg. Sehen konnte ich sie immer noch, doch sie war bloß noch ein Pünktchen, und da waren auch all die anderen Dinge wie Wolken und Himmel und überhaupt alles, was man als Kind im Kindergarten auf einem Bild nie vergessen hätte. Ich machte die Tür zu. Wie meine Mutter damals in der Via Vanchiglia immer ihre Perlen und ihre Armbänder aus Weißgold in den Tresor eingeschlossen und gesagt hatte: »Wenn du mal groß bist, Liebes, gehört das alles dir.«
Dann hatte Livia auch den Papagei satt, weshalb ich ihn in dem Eheschlafzimmer im ersten Stock unterbrachte, wo ihm all die Gegenstände und so weiter und so weiter Gesellschaft leisteten, ein zuckender Tanz aus Bewegungen, die in Richtung Tod zappeln und dir die Geschichte von Stefano Mega erzählen, bevor er unvorhergesehen aus ihr herausflog.
Mit dem Honorar von meiner letzten Übersetzung schenkte ich ihr eine Polaroid. Ich hatte sie im Schaufenster eines Geschäfts nur ein paar Schritte von unserem Haus entfernt gesehen, ein schöner, glänzender Apparat, riesengroß. Ich trug sie nach Hause, als es schon dunkel war. Hier in Leeds funktioniert das im Dezember so: Es wird dunkel, bevor man merkt, dass die Sonne aufgegangen ist.
Kaum hatte ich den Fotoapparat in die knochigen, länglichen Hände meiner Mutter gelegt, bemerkte ich einen sphinxförmigen Fleck auf dem rechten Hosenbein ihres Trainingsanzuges. Wir waren gerade in der Küche, und es roch nach Gebratenem. Ich fragte sie mit einem Blick: Was ist denn das jetzt für ein Anzug, Mama? Wo hast du den her?
Ich ging wieder an die Arbeit. Die Leute von der Waschmaschinenfirma schickten mir haufenweise Mails mit neuen Texten zum Übersetzen. »Während des Waschvorgangs kann sich das Bullauge erhitzen. Das Bullauge auf keinen Fall gewaltsam öffnen. Achten Sie darauf, dass Kinder sich nicht dem Bullauge nähern.«
An jenem Abend fand ich in der Küche neun identische Fotos von unserem Duschabfluss. Das Loch nahm die gesamte Einstellung ein, und es war auch eine gekräuselte Locke von mir sowie etwas Seifenschaum auf der rechten Seite zu sehen. Der Rest des Fotos war weiß.
Warum diese Fotos, Mama. Ich dachte es angestrengt, aber sie gab mir keine Antwort.
Ich faltete meine Übersetzung zusammen und ging in ihr Zimmer hoch, aber sie schlief und hielt ihr Kissen umarmt. Sie sah aus wie tot. Wer weiß, ob nicht auch mein Vater und die andere sich im Tod in den Armen gehalten hatten. Sicher. Und ganz gewiss hatten sie all die Dinge getan, die Liebende eben so machen, zum Beispiel zusammen duschen. Ich sehe vor mir, wie sich ihre Körper im strömenden Wasser bewegen. Ich balle die Fäuste, zerknülle das Blatt mit meiner Übersetzung. Sie bumsen im Wasserstrahl. Während des Waschvorgangs kann sich das Bullauge erhitzen.
Manchmal dachte ich an meine Großmutter. Es war schön, an etwas zu denken, das nicht in einem Loch gestorben war. Bloß schade, dass der Papagei trotz ihrer Bemühungen vergessen hatte, wie man ciao sagt. Vielleicht sagte er es deshalb nicht mehr, weil er den Eindruck hatte, es sei Verschwendung, da ihm sowieso niemand eine Antwort gab.
Ich schloss die Tür zu dem Schlafzimmer auf, in dem früher meine Eltern geschlafen hatten. Der Papagei schaute irgendwie komisch in Richtung Fenster, nicht wie ein Vogel, sondern wie eine Frau aus einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Blick richtete sich verloren auf einen unbegreiflichen Strudel aus traurigen Erinnerungen, die der Himmel da draußen nur ihm allein erzählte.
Ich konnte einfach nicht anders: Ich machte für den armen Papagei die Käfigtür und auch das Fenster auf, und er flog davon. Ciao sagte er nicht.
Mir wurde gleich die Kehle eng. Wie hatte ich ihn bloß freilassen können? Ich schrie: »Komm zurück!«, und es klang, wie wenn jemand nach einem langen Tauchgang die Wasseroberfläche erreicht und nach Luft schnappt. Und so kam es, dass ich wieder mit dem Reden begann.
Ich rief noch einmal: »Komm zurück!«, und
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