Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
hinaus. Es war eine kompakte Nacht von unwirklichem Schwarz. Die stillen, ewig gleichen Häuser sahen so aus wie die Kulisse eines Low-Budget-Films, die nur darauf wartete, abgebaut und wieder zur alten Umgebung zu werden, in einer richtigen Stadt, in der die Häuser alle verschieden sind und lebendige Menschen Geräusche machen.
Im Müllcontainer lag ein ganzer Haufen Klamotten, alle sauber und gefaltet. Ich zog sie heraus und nahm sie mit nach Hause. Alle hatten irgendeinen Fehler. Einige hatten verschiedene Ärmel, wie die ersten beiden, bei anderen waren die Ärmel oder auch der Halsausschnitt zu eng. Dann waren da auch noch Hosen mit schief sitzenden Taschen und T-Shirts, die hinten und vorne nicht passten.
Sie alle verstaute ich sorgfältig in meinem Schrank.
Ich fing an, die Kleider aus der Mülltonne zu tragen, wenn ich ausging. So begann ich sowohl, wieder auszugehen, als auch in diesen Kleidern auszugehen. Und stolzierte mit diesen herrlich verhunzten Klamotten auf der Straße herum, mit Ärmeln auf dem Hintern und Knöpfen unter den Achseln. Die Kleider waren auf eine Weise verhunzt, die schier unmöglich und deshalb umso göttlicher war, und als die Nonnen den Ausschnitt am Hintern sahen, riefen sie auch tatsächlich Jesus Christus und seine ganze Familie an.
Dazu noch die Knöpfe, in schiefen und krummen Reihen, die meistens an einer peinlichen Körperöffnung endeten, ganz zu schweigen von den sexy Shirts, die so winzig waren, dass sie einem Kind gepasst hätten, und den Hosen mit drei Beinen.
Und trotzdem fühlte ich mich in den Klamotten wohl, zumal ich darin ja nur in den Supermarkt oder zum Guillotinieren der Blumen auf dem Friedhof ging. Dann, eines Nachmittags, als ich sowieso schon unterwegs war, dehnte ich meinen Spaziergang etwas aus und arbeitete mich bis zum Videoverleih vor, zu dem ich am Wochenende immer mit meinem Vater gegangen war.
Er lag in der Woodhouse Street, dieser trostlosen und grauen Ansammlung von Fast-Food-Lokalen aus aller Welt, da war ein Chinese und ein Inder und dann ein Italiener, wer weiß, ob die Reihenfolge mit Absicht alphabetisch angeordnet war, und auf der rechten Seite lag der kümmerliche Park. Unter den Schaukeln wuchs eine Wiese aus benutzten Spritzen.
Ich lieh mir eine DVD aus und ging nach Hause. Ab diesem Tag lieh ich immer wieder denselben Film aus, einen isländischen Streifen namens Nói albinói, in dem wenig gesprochen wird und es viel schneit, und dann kommt eines Tages eine große Lawine und alle sterben.
Jedenfalls kehrte ich gleich nach Hause zurück, als ich den Film ausgeliehen hatte. Doch das Leben ist wie Wasser, es gelang ihm sogar, in jenen winzigen Riss einzudringen, den ich der Welt zugestand, indem ich den kleinen Spaziergang zum Videoladen wagte. Denn dort stand Wen an der Bushaltestelle, reglos wie ein Verkehrszeichen. Er sah aus wie das unglückliche Männchen vom Notausgangsschild, eine weiße Figur vor grünem Hintergrund mit einem Bein in der Luft, für immer festgehalten im Moment kurz vor der Flucht. Wäre ich nicht auf der anderen Straßenseite gegangen, dann hätte es das Männchen geschafft, aus meinem Leben zu fliehen.
Stattdessen kam jedoch der Bus Nummer 96 vorbei, und als er wieder abfuhr, stand der Typ immer noch da und schaute mich sonderbar an. Was wollte dieser vermaledeite Chinese eigentlich? Das hatte mir gerade noch gefehlt, einer, der wegen irgendeinem Erdbeben Spenden sammelt.
Der Chinese überquerte die Straße. Er kam mit langsamen Schritten auf mich zu. Er war etwas größer als ich, das heißt klein, aber gut proportioniert. Ein schwarzes Hemd aus scheußlichstem Acryl, das ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, flatterte ihm um die Brust wie eine Piratenflagge.
Und was die Spenden für die Erdbebenopfer in China anging: Wenn er den Mund aufmachte, würde ich ihm sagen, dass ich die Knete für das Schweigen meiner Mutter brauchte. Und dass ich für jedes Wort, das sie mir nicht gesagt hatte, ein Pfund Sterling verlangte, und damit nicht genug, dass ich alle Wörter wieder zurückwollte, in alphabetischer Reihenfolge, und dass er selber sie für mich aufsagen sollte, von A bis …
Nur ein paar Zentimeter vor mir blieb er stehen.
Genau in dem Moment bemerkte ich seine Augenlider, die nicht, wie bei den anderen, diese schwerfällige Falte haben. Sie waren ganz glatt und gespannt, wie weiße Blätter Papier, die nur darauf warten, beschrieben zu werden.
Und sie waren weiß, blütenweiß, strahlend
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