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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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die Wörter sind, wie man weiß, Herdentiere, sie kommen nie allein. Tatsächlich brachte mein »Komm zurück!« so viele andere Verben und Ergänzungen mit, wie etwa: »Ich mache Nudeln« und »Es regnet wieder.« Beide kamen zwei Tage später, das »Ich mache Nudeln« und das »Es regnet wieder«, an einem Nachmittag, der dunkler war als die Apokalypse, während meine Mutter immer noch schlief und der Hund der Nachbarn bellte wie ein Verzweifelter.
    Ich saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und war gerade auf der Suche nach einem Sender im Fernsehen, der mir anstelle von wildgewordenen grauen Streifen ein paar Bilder geschenkt hätte. Ich hatte Hunger. Ich dachte an meinen Papagei, der den Kirchturm vor dem Fenster betrachtete. Ich schrie: »Ich mache Nudeln«, ziemlich laut, damit es bis ins Zimmer meiner Mutter vordrang, und tatsächlich stand sie etwa zehn Sekunden später oben auf der Treppe, die Haare ein talgiger Helm, der an ihrer Stirn klebte. Der Pyjama mit den Libellen hatte einen blutroten Fleck von dem Kaffee auf der Brust, den sie sich vor einem Monat übergekippt hatte.
    Sie stand da und schaute mich an wie eine nachtragende Prinzessin, die von der bösen Fee mit hundert Jahren Hässlichkeit bestraft wurde.
    Ihr Blick sagte mir: Nur zu, wenn du dich bemüßigt fühlst, wieder mit dem Reden anzufangen.
    Ich antwortete: Es regnet wieder. Brechreiz stieg mir in der Kehle hoch, ich lief in Richtung Bad, schaffte es jedoch nicht und kotzte auf meine Goofy-Pantoffeln.
    Die grünlichen Stückchen erinnerten an ein E und ein S, dann musste ich wieder würgen und brachte die körnigen Bröckchen von r und e und g und n und e und t hervor, dann kam vielleicht auch noch ein »wieder«. Dazu ein widerlicher Geruch nach Fäulnis. Und meine Mutter stand immer noch oben auf der Treppe, aber ich schaute nicht hin, um nicht ihre Augen zu sehen, die sagten: Da siehst du, was passiert, wenn man plötzlich wieder zu reden anfängt.
    Sei still!
    Und schau mich nicht so an!
    Ich lief in mein Zimmer und kotzte mich drei Stunden lang mit Wörtern voll, ich redete mal mehr und mal weniger, wie man es mit einem alten Freund macht, den man schon Jahre nicht mehr gesehen hat. Zum Beispiel erzählte ich mir, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht von der Uni abgegangen wäre und nicht die wunderschöne Wohnung aufgegeben hätte, in der ich hatte wohnen wollen, und diese Geisha aus Porzellan, die ich mir auf dem Donnerstagsmarkt in der Nähe des Bahnhofs gekauft und auf die Kommode in der Victoria Road gestellt hatte, und der Engländer, der sie mir verkauft hatte, hatte mir zugelächelt. Er hatte blaue Augen gehabt und war so hübsch gewesen, und als ich wegging, hatte ich seinen blauen Blick auf meinem Rücken gespürt. Aber ich kotzte alles, das G der Geisha und das h von hübsch, und sogar das K von Kommode, in jeder Ecke des Zimmers waren grünliche Kotzschlieren, Buchstaben in lateinischer Schrift aus dicker Kotze. Ich schlief in dem Gestank ein und hatte stinkende Träume.
    Ganz langsam kamen immer mehr Wörter aus mir heraus, und ich kotzte immer weniger. Am Anfang kamen sie mir alle noch vollkommen nutzlos vor, und mich erstaunte, dass die Welt nach jedem Satz immer noch die Gleiche war. Ich finde sie immer noch nicht besonders nützlich, aber ein Hund hört auch nicht mit dem Bellen auf, bloß weil er merkt, dass es nichts nützt.
    Jedenfalls flog an jenem Tag mein Papagei weg, obwohl ich »Komm zurück« gerufen hatte. Vielleicht war er aber auch weggeflogen, weil ich es gerufen hatte. Ich sah ihn hinter dem Kirchturm des Friedhofs verschwinden.
    Meine Mutter lief erschrocken herbei, als sie meinen Schrei hörte. So, als hätte plötzlich ein Topf oder ein anderes unbescholtenes und unbelebtes Objekt angefangen zu reden. Sie schaute mich mit dem üblichen Was-geht-da-vor?- Blick an, diesem Jokerblick, mit dem sie das meiste quittierte, was um sie herum passierte.
    Ich antwortete: »Komm zurück.«
    Meine Großmutter war nicht die letzte Besucherin bei uns zu Hause; das war der Drogenhändler. Auf meinen kurzen Spaziergängen bis zum Supermarkt begegnete ich oft irgendwelchen Kids, die versuchten, mir Geld abzuknöpfen. Manchmal gab ich ihnen dann ein paar von den Schlaftabletten, die ich für den Notfall immer mit mir herumschleppte, zum Beispiel für den Fall, dass mich urplötzlich die Lust überkommen sollte, mit allem Schluss zu machen, oder um herauszufinden, was von mir übrig bleiben würde, wenn ich mitten auf der

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