Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Straße einschlief. Nein, es stimmt nicht, dass ich zu den Menschen gehöre, die ständig an den Tod denken. Vielmehr denkt der Tod an mich, er ist das Fenster im Zimmer meiner Mutter, das sich nichts so leidenschaftlich wünscht, als dass ich herausspringe. Ich bin der erotische Traum aller Fenster in ehemaligen Arbeitersiedlungen. Die sich dann jedoch armseligerweise gar nicht öffnen lassen, und wenn ihr mir das nicht glaubt, dann kommt zu mir nach Hause und probiert es aus. Jedenfalls, um auf die Kids von der Christopher Road zurückzukommen, fragte mich eines Tages einer von ihnen, der vielleicht gerade mal dreizehn war, ob ich was zu rauchen haben wollte. Ich sagte Ja und lud ihn zu mir ein. Ich war neugierig, geraucht hatte ich noch nie etwas.
Er antwortete: »Was?«
Und ich wiederholte: »Gehen wir zu mir .«
» Soorryyy?«
»Zu mir!«
»Sorryyy?«
»Zu mir!«
»Was?«
»Ach, halt die Klappe!«
Jetzt war es offiziell. Ich schaffte es nicht mehr, Kraftausdrücke in meinem Mund zu verschließen.
Das Gleiche war meiner Mutter mit der Wut darüber passiert, dass sie nicht aus dem Haus durfte. Ich erschauderte. Ich drehte mich um und ging, und er fing an, mir hinterherzudackeln, wie ein herrenloses Hündchen. Mir wurde ganz flau, da war es wieder, ich wusste es. Ich blieb hinter einer Hecke stehen, um zu kotzen.
» What’s up, man?«
»Ach, nichts, ich bin Bulimikerin, lass mich in Ruhe.«
»Was?«
»Ja, du hast schon richtig verstanden, ich bin Wortbulimikerin, weil ich schon so lange nicht mehr geredet habe, dass ich jedes Wort auskotze, das ich sage … Jedenfalls ist das meine Sache.«
»Ich verstehe nicht, Mann.«
»Hau ab.«
Noch eine Ladung Kotze landet auf dem Asphalt. Der Asphalt auf der Christopher Road ist daran gewöhnt, dass Kotze auf ihm landet. Es ist sein Freitagabend-Hobby, ganze Bäche von Kotze aufzunehmen, die wie Seife in Richtung Woodhouse Street fließen, und die Köpfe von Kids zu sehen, die sich über das beugen, was von sechzehn Pints Bier übrig bleibt. Ja, die Christopher Road ist sogar abhängig davon, weil es die einzige Methode ist, den Schnee abzuwaschen.
Ich wischte mir den Mund mit der Hand ab, und die gelblichen Schlieren sahen wie ein H und ein A aus. Ein letzter Spritzer auf meine Springerstiefel, die mir sowieso nicht mehr gefielen. Das U, das A und das B wischte ich mir von den Metallspitzen ab.
Der kleine Dealer lief mir bis nach Hause hinterher, es war arschkalt.
Bei mir im Haus bereitete er alles vor. Meine Mutter beobachtete ihn argwöhnisch, als er den Joint drehte, und er sagte »Schlampe« zu ihr. Das ist ein Wort, das die Kinder hierzulande noch vor dem Wort »Mama« lernen. Sie gab keine Antwort. Erst da begriff ich endgültig, dass bei ihr Hopfen und Malz verloren waren. Wenn nicht einmal eine Beleidigung wie diese ihre Stimmbänder in Bewegung brachte, gab es keine Hoffnung mehr.
Ich sagte zu dem Kid: »Scheißkerl.«
» Sorrry?«
»Scheißkerl!«
»Waaaas?«
Ich schmiss den pickeligen Boten der Wahrheit raus. Aber ich beobachtete vom Fenster aus, wie er sich entfernte, folgte ihm mit den Augen, als wäre er ein Drachen, der mit hängender Schnur davonschwebt.
Zu Weihnachten des Jahres null zog ich mir eines der Kleider an, die ich in der Mülltonne gefunden hatte. Das Tannengrüne. Am linken Arm, der nicht bedeckt war, fror ich. Aber ich blieb sowieso mit meiner Mutter zu Hause.
Streng genommen war es noch gar nicht Weihnachten, aber es war genug Weihnachten, um die blinkende Lichterkette aufzuhängen und den Baum zu schmücken, eben all die Dinge, die die anderen auch machten. Selbst die in der Christopher Road machten sie.
Wir aßen schweigend. Die nackte Glühbirne über dem Tisch spendete nur ein schwaches Licht, das zwischendrin sogar auch ausging. Früher war das nicht so gewesen, da hatten wir jede Menge Kohle gehabt. Nein, das stimmt nicht, früher war das auch schon so gewesen, obwohl wir jede Menge Kohle gehabt hatten.
Nach dem Abendessen schlug ich vor, im Fernsehen einen Film anzuschauen, aber sie schüttelte den Kopf. Also nahm ich den Müll und brachte ihn zur Tonne, wobei ich für sie als Provokation irgendeinen bescheuerten Film über den Weihnachtsmann laufen ließ.
Sie hielt mich an der Tür auf, indem sie mich am Arm packte, und sich auf der Höhe, wo in der Mülltüte die Öffnung war, darüber beugte. Aus dem Fernseher kam das Läuten der Schlittenglöckchen.
Sie blitzte.
Und schlurfte zu Bett.
Ich ging
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