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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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Sein Gesicht wurde rot wie der Mond, wenn er tief am Horizont steht.
    »Warte mal.«
    »Was gibt’s?«
    »Hast du noch Interesse daran, Chinesisch zu lernen?«
    Ich verzog den Mund zu einem Lächeln, das in meiner Muttersprache bedeutet: Glaube nicht, und in der Sprache meiner Mutter mit einem schiefen Blick ausgedrückt wird.
    »Ich gebe Studenten von der Uni nämlich Privatstunden.«
    »Ich bin nicht mehr an der Uni.«
    »Ja, entschuldige, ich weiß, aber …«
    »Ciao.«
    Er erwiderte meinen Gruß, und ich ging unter Glöckchenklingeln hinaus. Draußen schaute ich noch einmal zu ihm zurück, und er schaute auch, das weiße Gesicht vom Fenster eingerahmt, die Augen wie schwarze Krallen, die nicht kratzen.
    Als ich nach Hause kam, war es schon dunkel. In Wirklichkeit ist es in Leeds unmöglich, bei Licht nach Hause zu kommen, unabhängig von der Tageszeit.
    Die Imbissbuden winkten mir mit ihrem Neonlicht zu, während ich im Slalom die Mülltüten umrundete, die überall entlang der Christopher Road herumlagen. Ich habe gelesen, dass Astronauten deshalb in Island ausgebildet werden, weil die Landschaft dort der auf dem Mond ähnelt. Todkranke hingegen bringt man mit Sicherheit nach Leeds, damit sie sich an den Tod gewöhnen.
    Meine Mutter schlief mit der Polaroidkamera um den Hals. Ich rüttelte sie an der Schulter. Es war, als würde man einen trockenen Ast berühren. Vier Bilder von Löchern im Emmentaler fielen auf das Sofa herunter. Eins davon, eine Nahaufnahme, sah aus wie der Oberschenkel einer Frau.
    Sie betrachtete mich mit dem Blick Was gibt’s? im Spiegel, und ich antwortete mit einem Blick, den es in unserer Sprache nicht gab. Er bedeutete: Kaufen-wir-einen-Hund, Willst-du-einen-Kakao, Fahren-wir-nach-London-so-wie-wir-das-früher-gemacht-haben-und-schauen-wir-uns-die-Modenschau-im-Southwark-Exhibition-Centre-an.
    Aber das konnte sie gar nicht verstehen.
    Entmutigt ging ich auf mein Zimmer. Die Blätter der Firma Gagliardi lagen auf dem Boden, dem Schreibtisch und auf dem Kissen verstreut. Auf dem Stuhl lagen die verhunzten Klamotten, wie die Haut von ausgeweideten Tieren.
    Ich nahm das Kleid mit den verschiedenen Ärmeln zur Hand und amputierte in einem Anfall von sadistischer Schaffenskraft einen davon mit der Schere. Dann zerteilte ich den Rock und nähte die Kante an ein anderes Kleid an. Es war schief, wie ein Sicherheitsgurt. Und so machte ich stundenlang mit geradezu entfesselter Freude weiter. Ich schlitzte Hosen auf, verstümmelte Taschen, tauschte Knöpfe aus und verpflanzte hässliche Kragenpartien an noch hässlichere andere Kleider. Bis endlich eine Hässlichkeit entstand, die auffallend und damit perfekt war, genügten nicht mehr nur die Kleider aus dem Abfall, sondern ich musste Transplantationen von Kleidern aus meinem Schrank vornehmen. So wurden sie noch hässlicher, vor allem, als ich eine neue Versuchsreihe begann und das Bärchenmuster eines Schlafanzuges mit strassbesetzten Abendkleidern kombinierte. Aufregend.
    Am Tag danach, als ich den Müll hinunterbrachte, sah ich im Müllcontainer die Jeans, die ich in dem Geschäft anprobiert hatte. Ich nahm sie mit nach Hause. Dort entfernte ich alle Strasssteinchen, als wären es bösartige Geschwüre, und ersetzte sie durch Fehlgeburten von meinem Bärchenpyjama, die ich mit einer Zickzackschere herausgeschnitten hatte. Dann bestrafte ich die Taschen mit Stoffflicken von meinem Rucksack, doch auch das war noch nicht das Ende. Im Anschluss wurden alle meine Hosen mit rotem Stoff verprügelt, mehr oder weniger an den Stellen, auf die das Blut tropfen würde, wenn du ein italienischer Journalist bist, der eine Engländerin bumst und dann in einen Graben rumst.
    Ich zog die Hose an und ging zu dem chinesischen Geschäft. In der Zwischenzeit hatte der Himmel die Gelegenheit genutzt und war dunkel geworden, obwohl es noch gar nicht Abend war, aber so wirr läuft das in Leeds eben mit den Zeitverschiebungen, das heißt, in Leeds ist alles verschoben, was die Zeit angeht, und seht nur, was dabei herausgekommen ist. Ganz zu schweigen von den Schneestürmen und den Taifunen, die man gratis dazubekommt.
    »Warum hast du die weggeschmissen?«
    » Ni hao! Was habe ich weggeschmissen?«
    »Diese Jeans.«
    »Entschuldige, aber diese Jeans habe ich noch nie gesehen.«
    »Aber was redest du denn, das sind deine, die habe ich bloß ein bisschen abgeändert.«
    »Ach, die. Als du gegangen warst, habe ich gemerkt, dass die Nähte schief waren.«
    »Aber nein,

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