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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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restlos ausgeleuchtete Plastikblumen, und ungezogene kleine Sender, die Stimmen von Menschen imitieren, welche verliebt in das Leben sind. All das soll mich bloß glauben machen, dass es auch einen besseren Teil von Leeds gibt, den die vaterlosen jungen Italienerinnen nicht sehen können.
    Ich kam an einem Kiosk und an einem Blumenladen vorbei, kaufte eine rote Rose, entjungferte sie noch auf der Straße mit meinem Schweizer Offiziersmesser und ließ ihre Überreste dann auf dem Bürgersteig liegen. Was zurückblieb, war ein sadistisches Lächeln aus Blütenblättern rund um den Gully, das ich zerstörte, indem ich die Blätter einzeln durch den Gitterrost kickte. Was, ich bin gefühllos? Aber bitte.
    Weiter vorne, gegenüber vom Supermarkt, stand eine Plakatwand, auf der sich ein berühmtes Model auf einer Wiese rekelte, Kopfhörer auf den Ohren und eine riesige Margerite neben dem Gesicht mit seinen hohen-Wangen-und-Stupsnäschen. Eine gelbliche Sonne hing am Himmel. Auf dem Plakat wird es wohl Sommer gewesen sein. Für die Leute in Leeds ist ein Plakat, auf dem der Sommer abgebildet ist, bestimmt ebenso fremd wie eins von Star Wars.
    Die Frau sagte, dass diese Batterien ewig halten. Das waren ihre letzten Worte, weil zwei Männer im schwarzen Unterhemd dabei waren, sie Streifen für Streifen mit einem neuen Bild zu überkleben. Aus der Margerite wurde ein Scheinwerfer. Aus dem Donnerbusen wurde ein Autonummernschild. Und aus dem Näschen kaltes graues Metall. Auch die Katzenaugen wurden zu Metall. Die langen Finger – ein Reifen.
    Die Frau auf der Wiese verwandelte sich in einen Lancia Delta mit Richard Gere am Steuer. Das ist alles, zumindest auf der Headingley Lane 23, aber wenn du dann zu Hause den Fernseher einschaltest, fährt dich Richard Gere bis nach Tibet, um den buddhistischen Mönchen den heiligen Abdruck seiner Hände im Schnee zu schenken.
    Ich ging weiter, und da an der Kreuzung war es, das chinesische Geschäft, von zwei Papierlaternen gekennzeichnet. Vier rote Farbspritzer bildeten einen Namen, den ich jedoch nicht entziffern konnte.
    Darunter stand die Transkription: Shouxue shangdian.
    Ich trat ein, es läuteten mehrere Glöckchen, die an einer riesigen roten Holzkatze angebracht waren, und ich erschrak. Das Geschäft war klein und ordentlich. Der Junge saß hinter dem Tresen, mit herausgestreckter Brust, die Fingernägel im Mund. Die Haare fielen ihm tief ins Gesicht, weil er nach unten schaute. Sein ganzer Körper schien mit vollem Einsatz darum bemüht zu sein, sich unsichtbar zu machen. In diesem Moment wirkte er wie jemand, der Angst vor dem Leben hat, als wäre das eine so festgefügte und unabänderliche Sache, meine Güte.
    »Aah, ni hao! Dann kennst du mein Geschäft ja doch!«
    Ich grüßte ihn mit einem Blick.
    Die Wände waren mandarinenfarben. Irritiert kniff ich die Augen zusammen. An einer Stange, die am Tresen begann, hing eine Reihe von einfarbigen Oberteilen, beginnend mit einem sandfarbenen Poncho. Parallel dazu verlief eine Stange mit Röcken und Hosen, die vor einer Umkleidekabine endete, welche mit einem weißen Plastikvorhang verschlossen war. Links von der Kabine, halb versteckt hinter den letzten Röcken, befand sich eine rote Tür.
    Darüber hing ein ausgeblichener Aufkleber, auf dem eine lächelnde Frau abgebildet war. Sie hatte rechts und links über den Ohren zwei Haarknoten und in der Hand eine lange Pergamentrolle mit chinesischen Schriftzeichen.
    »Diese Jeans da, was kosten die?«
    »Zehn Pfund.«
    »Kann ich sie anprobieren?«
    »Ja, klar, dort ist die Umkleidekabine.« Er senkte wieder den Blick.
    Ich schließe den Vorhang. Ziehe mich um. Durch den Spalt zwischen dem Vorhang sehe ich die lächelnde Frau, weiß der Geier, was auf dem Pergament steht.
    Ich versuche, mich an etwas zu erinnern, was ich einmal gelernt habe, doch jedes Schriftzeichen, das mir in den Sinn kommt, überhäuft mich mit wüsten Beschimpfungen.
    Ich schaue mich im Spiegel an. Die Jeans beleidigen mit ihren unanständigen blauen Strasssteinchen meine Schenkel. Ich ziehe mir gleich wieder das graue Kleid mit der krummen Knopfleiste an.
    »Wie haben sie denn gepasst?«
    »Schlecht.«
    »Zu groß?«
    »Nein. Hast du was, das ein bisschen mehr …«
    »Ein bisschen mehr was?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Probier doch mal die mit den Blümchen, die sind hübsch. Ist Größe 34 okay für dich?«
    »Ich geh jetzt nach Hause.«
    Ein weiteres Gemetzel der Fingernägel, dann hob er endlich den Kopf.

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