Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
Vom Netzwerk:
weiß.
    Wie die feine Nase und die zarten Ohren. Wie die runden Wangen. Wie die kleinen Finger, die er nach meiner Brust ausstreckte.
    »He, was zum Teufel hast du vor?«
    »Nein, nein, entschuldige bitte, das hast du falsch verstanden. Es ist bloß … Entschuldige, aber darf ich fragen, wer dir dieses Kleid gegeben hat?«
    »Sorry?«
    »Wer hat dir dieses Kleid gegeben?«
    »Ja, das hab ich schon gehört, aber ich verstehe die Frage nicht. Offensichtlich habe ich es in einem Geschäft gekauft.«
    »Entschuldige, aber das stimmt doch nicht.«
    »Was willst du denn?«
    Er schaute mich verloren an und musterte die überlangen Ärmel meines Kleides, das an der Brust zu eng war. Ich schaute mir seine Lider an.
    »Hast du das zufällig aus dem Müll geholt?«
    »Das ist eine lächerliche Frage.«
    »Entschuldige. Bist du sicher?«
    »Klar.«
    »Entschuldige, aber dieses Kleid kommt aus meinem Geschäft.«
    »Langsam gehst du mir auf den Keks.«
    Er errötete, senkte die Augen und begann an seinen Nägeln zu kauen.
    »Entschuldige. Wir haben bloß einen sehr schlechten Schneider, musst du wissen. Er ist ein bisschen zurückgeblieben. Er macht beim Nähen eine Menge falsch, und deshalb schmeiße ich ziemlich viel davon weg.«
    »Wo ist denn dein Geschäft?«
    »Eigentlich ist es gar nicht meins, es gehört meinem Vater, auch wenn er nicht mehr dort ist. Er wohnt in Knaresborough.«
    Ein Rollladen wurde hochgezogen. Der Pakistani vom Videoladen machte sein Geschäft auf.
    » Zaijian.« So verabschiedete ich mich von dem Chinesen, auch wenn man den Eindruck hatte, er wolle sich auf immer und ewig an seiner Schüchternheit vergehen.
    »Aber du … kannst du Chinesisch?«
    »Nein, nein, nur ein bisschen. … Vor drei Jahren habe ich angefangen, es an der Uni zu studieren.«
    »Und was ist dann passiert?«
    »Dann sind wir alle in einen Graben gefallen.«
    »Was soll das heißen? Wer ist wir?«
    »Mein Vater, meine Mutter, ich, und die chinesischen Schriftzeichen auch, haha.«
    »Entschuldige, aber ich weiß nicht, was du damit sagen willst.«
    Ein Nagel riss mit einem leisen Knacken ein.
    »Ich hab bloß einen Witz gemacht. Ich muss jetzt los. Mach’s gut.«
    Als ich nach Hause kam, saß meine Mutter im Wohnzimmer auf dem Boden. Sie bedeutete mir, näher zu kommen, und reichte mir ihre letzten drei Fotos.
    Ein erbarmungsloses Licht fiel auf ihr gesamtes Gesicht, es schwappte in den stumpfen Rillen ihrer Falten und faulte im Braun ihrer Augen. Früher waren sie meerblau gewesen, diese Augen. Dann hatte sich das Meer, das in den Graben floss, mit Schlamm gefüllt. Auch die Haare, die früher einmal blond gewesen waren, sahen jetzt, weil sie sie nicht mehr wusch, eher braun aus, und wer weiß, ob es nicht auch damit zu tun hatte, dass sie immer im Haus blieb, weit vom Licht entfernt.
    »Nächste Woche kaufe ich neue Batterien auf dem Markt«, sagte ich und streichelte ihr über die Haare.
    Sie antwortete mir mit dem Blick, der bedeutete: Schaffst du das denn dorthin? Ich antwortete ihr mit dem, der hieß: Mach dir keine Gedanken, ich kümmere mich darum.
    Ja, ich weiß, dass ihr mich bemitleidet, aber was nützt mir das? Macht euch eine Kopie davon und beklebt eure eigene Geschichte mit eurem Mitleid.
    Ich holte den Laptop herunter. In der Küche setzte ich Wasser auf und legte die DVD ein. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass es sich gar nicht um den isländischen Film handelte, auch wenn das auf der Hülle behauptet wurde. Ich hatte mich selber beschissen. Es war irgendeine bescheuerte amerikanische Komödie, in der ständig alle lächelten und es sogar eine Filmmusik gab.
    Als ich loszog, um die DVD zurückzugeben, schaute ich mir die Bushaltestelle an und dachte an den chinesischen Jungen. Wenn er die Klamotten bei meinem Haus in den Müll schmiss, dann musste sein Geschäft ganz in der Nähe sein, aber wie kam es nur, dass ich es nie gesehen hatte? Ich bog auf die Headingley Lane ein.
    Hinter den Mauern vermutete man eine lichtdurchflutete Vegetation und viktorianische Häuschen in Dunkelbraun, und die Stimmen von Menschen, fernes ätherisches Lachen wie in einem Traum, oder wie in einem Horrorfilm, wenn sie dich auf die unschuldige Szene vorbereiten, über die dann das Grauen und das Gemetzel hereinbricht.
    Dabei ist es nichts anderes als der übliche Trick der Vogelscheuchen. Dort hinten befinden sich in Wirklichkeit auch nur die Dachfirste, die auf langen Stöcken aufgespießt und von Neonlicht beschienen sind, und

Weitere Kostenlose Bücher