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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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redet.
    Zuerst war sie Flötistin und spielte in Turin auf Hochzeiten. Kennengelernt hatte sie ihn auf einer Hochzeit im März, als sie den Frühling vor dem Mozart-Notenblatt in hohe, weiche Töne übertrug. Meine Mutter trug ein Kleid in dem Türkis, das sie so liebte, dazu hohe, blaue Absätze und ein lebhaftes Strahlen im Himmel ihrer Augen.
    Mein Vater habe sich vom Tisch erhoben und sei auf sie zugekommen, um ihr zu gratulieren, erzählte sie mir oft, und an jenem Tag dankte sie ihm mit matter Stimme, so wie sie es immer machte.
    Er war der Vetter des Bräutigams, trug einen Frack, und sie lächelte ihm mit ihrem ganzen Gesicht zu. Sie ließ die Flöte sinken. Den Geiger, den Mann am Violoncello und die Bratschistin grüßte sie mit einem anderen Lächeln, dem aus der Parfümwerbung.
    Was soll das schon heißen, dass ich nicht da war – ich weiß ganz genau, wie sich meine Mutter verhielt. Wie sie den Notenständer zusammenklappte und die Teile der Flöte im Kasten verstaute, wie sie lautlos von der Bühne stöckelte.
    Wie er sie fragte: »Haben Sie einen Schirm?«
    Und sie: »Nein, habe ich nicht.«
    »Soll ich Sie im Auto mitnehmen?«
    »Das ist sehr nett. Sind Sie auch Musiker?«
    »Haha, nein. Als Kind habe ich mit Klavier begonnen, war aber grottenschlecht. Nein, ich bin Redakteur bei Gente, das ist ein unabhängiges Magazin, produziert und vertrieben von …«
    »Vielleicht habe ich es schon mal gelesen. Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
    Sag: Hurenbock. Sag: Betrüger. Sag: Schwein.
    Oder auch Stefano Mega, mit seinem leichten Beigeschmack von Nintendo, und meine Mutter bahnte sich einen Weg durch das Palaver der Zuschauer und verließ mit ihm die Villa am Stadtrand.
    Wie sie zu Fuß bis zu seinem weißen Micra mitging.
    Wie sie auf ihren Pfennigabsätzen winzige Trippelschritte machte.
    Wie sie ganz gerade ging und man sie nie atmen oder husten oder niesen hörte.
    Wie sie die Welt einfach in ihre Bestandteile zerlegte.
    »Hier, nehmen Sie, das ist meine Nummer.« Und er gab ihr seine gelbe Visitenkarte mit der Aufschrift: » La Gente. Redakteur « . Jetzt liegt diese Visitenkarte in einer Schublade in dem Zimmer mit der abgeschlossenen Tür. Jetzt, wo alles so falsch ist wie ein Pullover mit der Naht nach außen.
    »Ach was, duzen wir uns doch. Ich bin Livia«, hatte sie ihm gesagt.
    An jenem Tag hatte sie sich trotz des Schirms erkältet und bekam Fieber, und während sie zu Hause ein Aspirin nahm, rief er an. Sie hatten sich für Samstag vor dem Filmmuseum verabredet, weil er ein großer Kinofan war.
    »Livia, weißt du eigentlich, dass du hinreißend bist?«
    »Ach was, das ist nicht wahr.«
    »Bist du schon mal in dem Zimmer gewesen, wo du dich auf ein Sofa legen und erotische Filme schauen kannst, die an die Decke projiziert werden?«
    »Wo, im Museum? Nein, da bin ich nie gewesen. Ich weiß, das hätte ich bestimmt mal machen sollen, aber so ist das eben, in der eigenen Stadt kommt man nie dazu …«
    »Ja, ich weiß. Ich hab dich auch zum ersten Mal spielen gehört. Du bist so …«
    »Ich hab ja auch noch nie was von dir gelesen …«
    »Weil Gente eine Scheißzeitung ist.«
    »Ich bin mir sicher, dass du gut schreibst.«
    »Nein, eigentlich nicht, aber ich tue es gern, ich mache nichts anderes als schreiben, und am liebsten würde ich mit dem Computer ins Bett gehen, haha.«
    Nach dem Telefonat war sie zum Üben gegangen, aber die Flöte klang nicht gut.
    »Und warum nicht?«, fragte ich damals mit fünf Jahren, in meinem Bett aus Holz in der Via Vanchiglia, während sie mir Fieber maß.
    »Weil es der Flöte schlecht geht, wenn es dir schlecht geht, mein Schatz.«
    »Das ist nicht wahr, lüg nicht.«
    »Klar ist das wahr. Wenn du Fieber hast, kriegst du auch wenig Luft, und dann spielst du nicht gut.«
    Und an diesem Punkt der Geschichte betreten ein riesiger Kühlschrank und Stühle in Kloform die Bühne, aber nicht, weil das hier jetzt eine Gutenachtgeschichte wird, sondern weil sich genau dort meine Eltern zum ersten Mal geküsst haben, am darauffolgenden Samstag. Nämlich unter dem riesigen Kühlschrank im Filmmuseum, zwischen einer Orange, so groß wie ein Fußball, und einem Milchkarton in Straßenlaternenformat, und hinter ihnen, dort, wo man die Schreie hörte, standen die Klosessel, in denen man sich Poltergeist und Der Exorzist anschauen konnte.
    »Mensch, weißt du eigentlich, wie schön du bist?«
    Seine dicken Finger, die sich um ihre Modelhüften legen.
    »Nein, Stefano, was

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