Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
sich in Wochentage zu unterscheiden.
Das muss die örtlichen Behörden auf den Plan gerufen haben, denn wenn die Wochentage tatsächlich aufeinanderfolgen, dann könnte es mit dem Dezember zu Ende gehen und vielleicht sogar der Januar beginnen, und danach käme der März, und wenn es so weiterginge, würde man irgendwann sogar im Sommer landen. Allerdings habe ich den Verdacht, dass das bloß ein Werbegag der Firma Burberry ist, die ihr neues Strandkleid für dreihundert Pfund an die Frau bringen will.
Es geschah nach dem Unterricht. An diesem Tag regnete es nur leicht, als wäre der Regen nicht ernst gemeint. Ich ging die Straße entlang und verfolgte dabei einen Sonnenuntergang, der lange dauerte und die Straße wie mit Ketchup beschmierte.
Als ich bei dem Geschäft angekommen war, sagte mir der Chinese, er heiße Wen, und begann etwas auf den Block zu zeichnen. Er trug einen Pullover, der zu groß war, ausgewaschene Jeans und an den Füßen unechte feuerrote Converse-Turnschuhe. Er saß hinter der Kasse und ich auf der anderen Seite des Tresens. Ein Heer aus unsichtbaren Menschen beobachtete uns hinter den aufgehängten Kleidern.
Er legte mir den Schreibblock hin. Auf der Mitte des Blattes prangte ein sonderbares abgeknicktes T.
Ein Lambda?
Ein geköpftes Kruzifix?
»Was ist das?«
»Das ist der Schlüssel oder auch Radikal für Mensch. Jedes Ideogramm, in dem er enthalten ist, hat mit Menschen zu tun. Das hier hingegen ist der Radikal für Tier. Siehst du, dass er links einem Schwanz ähnelt?«
»Wie viele Radikale gibt es denn?«
Je mehr ich fragte, desto mehr errötete er. Und je mehr er errötete, desto mehr fragte ich. Die Position seiner Füße veränderte er nicht einmal um einen Quadratmillimeter.
»Viele, viele. Viele Zeichen werden genau so gebildet, indem man ein Radikal einem bereits existierenden Ideogramm anhängt.«
»Aber wenn es genügt, diese Radikale anzuhängen … Dann sind die chinesischen Schriftzeichen ja unendlich!«
»Ich weiß nicht recht. In gewisser Weise schon.«
Er kehrte auf seinen Stuhl zurück und klappte ein Notizbuch auf.
»In Wirklichkeit wurden die chinesischen Schriftzeichen erst im Jahre 121 nach Radikalen gruppiert, damit man sie in den Wörterbüchern finden kann. Es ist eine willkürliche Unterteilung.«
»Und wie hat man sie früher im Wörterbuch gefunden?«
Er schaute mich an, löcherte mir das Gesicht mit dem übertriebenen Schwarz seiner Augen. Dabei hatte er immer diesen leicht schielenden, treuen Blick, wie die Hunde, die nach Hause finden, nachdem du sie an der Autobahn zurückgelassen hast.
»Zuerst konnte man sie nicht suchen.«
»Im Ernst?«
»Ich glaube ja.«
Er schlug ein großes Lexikon auf Seite drei auf. Es war in fünf Spalten gegliedert, die wiederum alle in noch kleinere, nach Nummern gekennzeichnete Spalten unterteilt waren.
»Ich bring dir bei, wie man im Wörterbuch sucht. Nehmen wir an, du suchst zum Beispiel das Ideogramm, das ich dir hier aufgezeichnet habe.«
»Das ist hübsch.«
»Was denn?«
»Dieses Ideogramm.«
»Du siehst doch, dass der Radikal dazu ›Mensch‹ ist? Der besteht aus zwei Strichen, deshalb gehst du zu Nummer 2.«
Er zeigte mit dem Finger auf die zweite Spalte.
»Aha. Und dort finde ich das Ideogramm?«
»Nein. Du findest eine Liste mit den Schlüsseln oder Radikalen, die aus zwei Strichen bestehen. Dort suchst du das für ›Mensch‹, und dann wirst du zu einer weiteren Nummer geführt, siehst du, in diesem Fall Nummer 19.«
»Das ist aber furchtbar knifflig.«
»Nein, das ist ganz einfach! Du gehst einfach nur zu Nummer 19.«
»Und dort steht dann die Bedeutung des Ideogramms?«
»Nein, dort sind weitere Spalten, die nach Nummern unterteilt sind. Du musst die verbleibenden Striche zählen, also die Striche minus den des Radikals, und zur entsprechenden Spalte gehen.«
»Mir raucht langsam der Kopf.«
»Aber nein, ist doch alles schon erledigt, du musst nur einfach zu dieser Spalte, und dann …«
»Und dort erfahre ich dann endlich, was das Ideogramm bedeutet?«
»Nein, dort steht eine Liste mit Ideogrammen mit der Anzahl der Striche, du suchst dir eins aus, und dann steht da, wie du es aussprechen musst.«
»Aber nicht, was es bedeutet?«
»Nein. Aber wenn du weißt, wie man es ausspricht, kannst du es im alphabetischen Teil des Wörterbuchs nachschlagen. Schau, das hier zum Beispiel heißt ›Wohlwollen‹.«
»Mir bleibt die Spucke weg. Ich hatte gar nicht in Erinnerung, dass es so
Weitere Kostenlose Bücher