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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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das stimmt gar nicht.«
    »Und warum hast du sie dann nicht gekauft, entschuldige?«
    »Und warum schmeißt du sie in einen Müllcontainer, der so weit von deinem Geschäft entfernt ist?«
    »Das ist eine lange Geschichte. Wenn ich dir die erzähle, wirst du denken, wir sind blöd.«
    »Wir? Wer seid ihr ? Nein, lass gut sein, Geschichten will ich nicht hören. Ich gehe jetzt. Ciao.«
    »Warte mal. Du, hör mal, entschuldige, aber hast du es dir vielleicht anders überlegt mit dem Chinesischunterricht?«
    Jetzt kapierte ich endlich das Geheimnis mit dem Männchen vom Notausgang. Das Problem ist nicht, dass der kleine Mann nicht abhauen kann – er will es nicht. Er ist einer von denen, die bleiben.
    »Ach, was redest du denn, mit der Uni habe ich abgeschlossen.«
    »Und warum?«
    »Das habe ich dir doch schon letztes Mal gesagt.«
    »Nein, du … Du hast was von einem Graben gesagt, aber das habe ich nicht so richtig verstanden. Deine Uni ist in einen Graben gefallen?«
    »Haha, nein. Die Universität von Leeds ist immer noch ganz.«
    »Und wo liegt dann das Problem?«
    »Mein Vater ist tot, aber mir hat es nichts ausgemacht. Bist du jetzt zufrieden?«
    »Das tut mir leid. Meine Ex-Verlobte ist auch tot.«
    »Glaubst du, davon geht es mir jetzt besser?«
    »Entschuldige.«
    »Nein, jetzt gehe ich wirklich. Zaijian.«
    » Nein, nein, können wir es nicht wenigstens mal probieren? Bitte. Ich bin mir sicher, du kannst es ganz toll. Oder hast du was vor?«
    »Wann?«
    »Jetzt.«
    »Nein, ich habe nichts vor, aber …«
    »Jetzt setz dich hierher, ich hole nur schnell das Buch.«
    »Aber was denn – jetzt?«
    »Warum nicht, komm schon.«
    Ich antwortete Ich weiß nicht in der Sprache der Blicke. Er lächelte mir zu. Ich hingegen hatte in meiner stummen Zeit das Lächeln ebenso aufgegeben wie alle anderen kommunikativen Grimassen des Menschen.
    Er verschwand in einem Zimmer.
    Schließlich kam er mit einem alten Lehrbuch mit rotem Einband zurück und holte einen weißen Block. Vorne drauf war ein Foto von zwei gelben Blumen.
    Er zeichnete vier Striche auf die erste Seite. Die Töne.
    Natürlich erinnere ich mich an sie. Das hier ist der hohe und konstante Ton, dann kommt der Ton, der steigt, dann der, der sinkt und dann wieder steigt, und dann der, der einfach nur sinkt. Das bin ich.
    In der Tat ist es genau das Geräusch von damals, als er in den Graben fuhr.
    »Und jetzt schauen wir, ob du dich noch an die Aussprache erinnerst. Ich schreib dir jetzt ein Wort auf.«
    »Gut.«
    Er schrieb das Wort. Er reichte es mir. Jetzt gehörte es für immer mir. Es war ein E. Ein E ist ein guter Anfang, denn es ist weniger autoritär als ein A und weniger definitiv als ein U. Ich war ziemlich zufrieden mit meinem E. Aber im Chinesischen gibt es nie nur einfach ein E. Für die Chinesen existiert sie nicht, die gedankenlose Reihung des Alphabets. Ein E bedeutet notgedrungen etwas, zum Beispiel »Joch«, »Motte« oder auch »Boshaftigkeit«.
    Mein Wort war »schmeicheln«, weil es auch einen Querstrich darüber hatte.
    »Also, nur zu. Lies!«
    Ich gab meiner Stimme den frechen Schwung eines la.
    »Ja, aber du darfst dann nicht runtergehen.«
    »Ich schaff es nicht, oben zu bleiben.«
    »Klar schaffst du das, probier’s noch mal.«
    » EEEEEEE .«
    »Nein, du musst die Stimme konstant halten.«
    »Das mach ich doch!«
    »Nein, du gehst runter!«
    Am liebsten hätte ich vor Wut geschrien. Ich nahm das E ins Visier, seine aufrechte Haltung einer elektrischen Säge, mit dem Querstrich darüber. Das letzte Mal, als ich es gesehen hatte, war im Krankenhaus gewesen, als mein Vater einen blutverkrusteten Streifen quer übers Gesicht gehabt hatte, seine Augen mich jedoch noch sahen, und dann hatte der Überwachungsmonitor angefangen zu piepsen, und die Zickzacklinie war nur noch ein horizontaler Strich. Sie wurde zum ersten Ton. Auch dieses beständige, scharfe, helle Piepsen klang wie der erste Ton. Ich kritzelte mit der Spitze meines Kulis auf den gelben Blumen des Einbands.
    »Noch mal!«
    » EEEE !«
    »Sehr gut!«
    Kurz darauf war die Lektion beendet. Ich ging hinaus.
    Draußen gab es einen Himmel.
    Eine Sonne.
    Im Geiste wiederholte ich immer wieder das E.
    Für mich als Italienerin bedeutete dieses E bestimmt nicht »schmeicheln«, sondern es war ein Bindewort, das »und« – wie hätte es mich nicht an jemanden binden können?
    Der darauffolgende Tag war ein Dienstag. Das weiß ich deshalb noch, weil erst da der Dezember begonnen hat,

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