Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
gegen die Hässlichkeit zu verschwören, ihre ausladenden Arme nach den Häusern der Menschen auszustrecken und aus der trockenen Kehle eines englischen Winters eine solche Mohnblüte von den Toten zu erwecken? Ich zerbröselte ihre sterbliche Hülle unter meinen Springerstiefeln.
Als ich noch klein war, war ich felsenfest davon überzeugt, dass Blumen überall wachsen, und wenn ich sie nicht sah, dann waren sie nur versteckt, wie Muscheln, die man ausbuddeln muss, und aus diesem Grund machte ich auch so gerne Löcher in den Sand. Wie doof. Die Schönheit muss man nicht suchen – die fällt über dich her, wenn du mal einen Moment lang nicht aufpasst. Wenn du zum Beispiel in die Stadt gehst und gerade an was anderes denkst, bist du urplötzlich von lauter gelben Blümchen umgeben, und dann kannst du gar nicht anders, als sie zu zerstören. Und so meuchelte ich sie alle, eins nach dem anderen, erwürgte sie mit Mörderstolz in der Tasche.
»Du stirbst doch sowieso«, sagte ich zu der letzten Petunie, die neben meinem Bein krepierte. »Da gibt es ein Loch, das auf dich wartet, dort drinnen, wo die Hunde pissen und die Menschen bumsen, und dann sterben sie alle, Menschen und Hunde, alle zusammen, auch wenn sie versucht haben, das Loch mit Zement zuzuschütten. Und da glaubst du, blöde Blume, wirklich, deine Schönheit kann dich retten?«
Als ich mich umdrehte, sah ich Wens bleiches Gesicht, das mich beobachtete. Ich stellte die Blume an ihren Platz zurück. Auch wenn die Blütenkrone keine Blätter mehr hatte. Aber gelb war sie immer noch, sonnengelb.
Als ich nach Hause kam, war ich todmüde. Es schneite immer noch. Dabei hatte sich der Bürgermeister mit dem Slogan wiederwählen lassen: »Weniger Winter für alle!«
Ich klappte den Schirm zusammen und schaute mich auf der Suche nach Lebenszeichen um. Nichts. Schließlich befahl ich meiner Begleitmannschaft, auf die Erde zurückzukehren. Ich öffnete den Müllcontainer, als wäre er mein Raumschiff.
Drinnen lag ein gelbes Trägerkleid, das oben so eng war, dass man es nicht über den Kopf ziehen konnte. Aber wann hatte er das hineingeworfen? Vielleicht schmiss der Schneider ja manche Klamotten selber weg. Mir fiel wieder der Satz »Wir treffen uns am dreizehnten um sechs« ein. Er gehörte zu den Sätzen von anderen Leuten, die bei mir zu Hause nicht rein durften.
Und tatsächlich schnitt ihn mir meine Mutter mit einem Blick aus dem Gehirn, kaum hatte ich das Haus betreten.
Und tatsächlich wurde aus dem Satz irgendwas mit »drei Zehen« und »Sex«.
Und tatsächlich lag der Kalender mit den Sportwagen unter dem Sofa, die Ferraris waren mit Staub und Barbecuesauce paniert, und die Namen der Monate und Tage mit einer Portion schimmeligem, englischem Parmesanersatz bestreut.
Ich lief in mein Zimmer. Ich nahm an dem Trägerkleid eine Notoperation vor, die den Umständen entsprechend gut verlief, und als dabei ein hässliches rotes Band übrig blieb, das ich einem Pantoffel entnommen hatte, setzte ich es auf der Höhe des Schritts ein, wie einen Keuschheitsgürtel.
Ich legte den Film in den Computer ein und fläzte mich auf das Sofa. Es war wieder nicht der isländische Film, sondern irgendeine beschissene französische Komödie. Zwei Franzosen quatschten Französisch und lachten Französisch. Ich schlief zum Klang ihres nervigen »r« ein.
»Was soll das heißen, dass es dir leidtut? Ich will das Geld zurück, es ist schon das zweite Mal.«
» I’m sorry. «
»Jetzt reicht’s mir mit diesem Leidtun, es tut dir doch gar nicht leid! Und außerdem, wie alt bist du, vierzehn, und dann setzen die dich hier an die Kasse, damit du ein solches Chaos anrichtest, indem du die falschen Hüllen um die DVD s machst, und überhaupt, was stellst du denn sonst noch mit den Filmen an? Ich könnte wetten, dass du sogar drauf isst, und was weißt du schon von Filmen? Es ist eine Schande! Was ist denn jetzt los, fängst du auch noch an zu heulen?«
»Tut mir leid.«
Jetzt kapierte ich gar nichts mehr. Ich ließ den kleinen Paki heulend zurück und nutzte die Gelegenheit, als er gerade nicht hinschaute, um mein Notizbuch mit den Chinesischvokabeln rauszuholen. Ich riss eine Seite aus und schob das Schriftzeichen für »geboren werden, entstehen« zwischen Tod in den Wolken und Tod in Venedig .
Zu Hause schrieb ich die Ideogramme in Schönschrift mit frischen, neuen Federn ab, damit sie ganz klar und deutlich waren.
Innerhalb kurzer Zeit hatten die chinesischen Wörter all
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