Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
meine Schreibhefte in Beschlag genommen, eine regelrechte Herrschaft der Schriftzeichen. Ich vergaß sie mit der gleichen Leichtigkeit, mit der ich sie lernte, aber die, die ich vergessen hatte, kamen immer zurück, ich erkannte sie in den Schatten der Zimmerdecke und in den Wollmäusen unter dem Bett. Dieses hier jedoch, das ich direkt vor dem Gesicht des weinenden Jungen platziert hatte, war das Allererste, das ich in die Welt setzte, das erste Schriftzeichen, das ich der Welt überließ.
Während ich nach Hause ging, versuchte ich mich daran zu erinnern, wie man dieses Zeichen für »geboren werden, entstehen« schrieb, das ich dorthin gepflanzt hatte wie ein Samenkorn, aber es war schon wieder weg, vollkommen im Orkus des Vergessens abgetaucht.
Kaum war ich daheim, holte ich mir Tesa und klebte wütend zwei Substantive, die ich mit schwarzer Tusche auf Papier gepinselt hatte, an die Küchenwand. Wen hatte mir schon mehrfach gesagt, dass das eine gute Methode ist, sie nicht mehr zu vergessen.
Meine Mutter hob den Kopf von ihren Butterkeksen, und schaute die Schriftzeichen an der Wand wie Außerirdische an, den Mund von Krümeln umrandet.
»Man sagt fan , Mama, und es heißt ›Essen‹. Und das andere hier bedeutet ›Ausflug‹.«
Sie antwortete mir mit dem Blick, der Was willst du eigentlich? lautet.
Ich forderte sie damit heraus, indem ich ein weiteres Schriftzeichen hervorkramte und es über der Anrichte aus Stahl aufhängte. Es war riesig und überaus kompliziert und bedeutete »mit nasaler Stimme sprechen«, das Zeichen mit bei weitem den meisten Strichen, nämlich siebenunddreißig.
Sie stand auf. Aber sei auf der Hut, Camelia, bei dir wird aus der verbalen Magersucht gerade eine Art von Bulimie.
»Du hast wirklich gar nichts kapiert, Mama.«
Sie wurde knallrot, ballte die skelettartigen Fäuste und hielt mit einem Blick dagegen, der bedeutete: Was du machst, ist falsch.
Ich antwortete ihr, dass der Radikal für »falsch« sich immerhin vom Zeichen für »Gold« ableitet.
Unser Haus füllte sich in nur fünf Tagen mit chinesischen Schriftzeichen, die in allen Ecken hingen, schwarze Schriftzeichen auf weißem Papier. Sie raschelten im Wind wie Geisterwesen, je nach Größe und Richtung. Denn wenn du die Geheimnisse der Radikale kanntest, begriffst du auch, was diese Wörter eigentlich auf der Welt machten, in deinem Haus, an deinem Kühlschrank. Und was wir da machten, meine Mutter und ich.
Am zwölften Dezember kaufte ich eine Wanduhr, rund und glänzend und mit einem Rahmen aus rosa Plastik. Auf der Straße hielt ich sie im Arm wie ein Baby, bis ich zu Hause war. Es schneite. Als ich in der Christopher Road ankam, war es so wie auf der letzten Seite eines Romans, dieser schneeweißen, leeren Seite, bei der du immer noch über das Ende nachdenkst, aber das Ende denkt nicht über dich nach, von ihm bleibt einfach nichts als eine weiße Seite, eine weiße, blöde Seite, die sagt, alles ist vorbei, und jetzt schleich dich.
Zu Hause schlief meine Mutter mit offenem Mund, den Kopf auf dem Tisch. Ich hängte die Uhr an die Wand neben dem Kühlschrank zwischen »Ausflug« und »rot«, weil das die fröhlichsten Schriftzeichen der Küche waren. Sie machte Ticktack, so wie man das von Uhren eben erwartet.
Ich hängte sie in mein Zimmer, um besser zu schlafen.
Weihnachten kam und ging wieder dorthin, woher es gekommen war. Wen sagte, dass die Chinesen es nicht feiern. Jedenfalls hatte er das Geschäft auch am ersten Feiertag offen.
Dienstag, der fünfundzwanzigste Dezember, wie gut das klingt. Die Zeit in Wochentage und Monate aufzuteilen und sie dann sogar noch zu nummerieren, war für mich wie die allerneueste Droge, und sie stieg mir zu Kopf.
Am vierten Januar zweitausendacht fand ich in meiner Handfläche, mit Kugelschreiber geschrieben, die Worte: »Lass sie morgen duschen«, und so beschloss ich am nächsten Tag, dass ich am übernächsten Tag beschließen würde, meine Mutter am überübernächsten Tag unter die Dusche zu stellen.
Am Anfang leistete sie Widerstand, aber dann schloss ich mit Gewalt die Schiebetüren der Duschkabine. Ihre Fäuste wurden schlaff, und ich reichte ihr den Schwamm hinein. Mit einem anderen Schwamm begann ich ihr die Brust einzuseifen. Sie war weich und trocken wie die Füße einer Schildkröte. Im Laufe der Zeit hatte sich die Haut geweitet wie bei einem alten Kleidungsstück, und die Brüste hingen schwer herunter.
»Mama, du musst mehr auf dich achten, hörst
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