Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
Vom Netzwerk:
sagst du da, so schön bin ich nicht.«
    »Und wie du das bist. Du bist eine Granate. Weißt du, was ich jetzt gerne mit dir machen würde?«
    Meine Mutter, die inmitten dieser gigantischen Früchte lächelte, mit diesem etwas schiefen, verrückt blauen Blick und dem goldenen Wasserfall aus Haaren, die wie Krümel an ihren Wangen klebten.
    »Und wenn du jetzt bis drei zählst, mein Schatz … Nur drei Jahre später …«
    »Eins, zwei, drei … Aber ich weiß, was dann geschieht.«
    »Ach, du weißt es schon.« Sie kitzelte mich. Vor dem Fenster sah man die Bögen der Laternen auf der Via Vanchiglia. Das Licht stahl sich über die Vorhänge aus getüpfeltem Stoff, und als ich sie wieder anschaute, lächelte sie.
    »Ja, klar weiß ich das. Ihr habt geheiratet. Warum erzählst du mir immer dieselbe Geschichte?«
    Weil das der Trick ist: Wenn du erst mal bei der Hochzeit angelangt bist, erzählst du die Geschichte immer weiter, bis zum Jahr minus drei und dann bis zum Jahr null, in dem meine Mutter mit fettigen, mausgrauen Haaren in der Küche sitzt und die Makkaroni in Tomatensoße mit den Händen in sich reinschaufelt. Und dann blickt sie auf, rülpst, die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hände schlaff wie die Flossen eines Fisches. Ihre Finger, die langen Finger einer Musikerin, liegen wie tot auf dem Tisch, mit Fleischbrocken bebröselt, und die Knöchel sind breit und hart wie große Ringe, die er ihr nie geschenkt hat.
    Sie nimmt die Polaroid.
    Ich sage zu ihr: »Weißt du, dass ich wieder mit dem Chinesischunterricht angefangen habe?«
    Sie richtet das Objektiv auf zwei Löcher in meiner Lederjacke.
    Ich sage zu ihr: »Weißt du eigentlich, dass heute Mittwoch ist?«
    Sie drückt auf den Auslöser.
    Der Unterricht bei Wen lief gut. Es war auch gut, dass ich bis zu dem Geschäft zu Fuß gehen musste. Wenn ich losging, war noch Licht, und wenn ich zurückkam, bereits Dunkel.
    Radikal für »Licht«: »Feuer«.
    Radikal für »Nacht«: »Abenddämmerung«.
    Ich habe herausgefunden, dass manche Zeichen identisch mit ihrem Radikal sind. Andere hingegen bestehen aus so vielen Strichen, dass man nie weiß, welches davon der Radikal ist. Und ich habe entdeckt, dass die Luft in meine Lungen hinein- und wieder hinausströmt, auch wenn ich mich nicht anstrenge, und so geht es ewig weiter.
    Auf der Straße ohne Wiederkehr verschlang ich ein Döner ohne Zwiebeln und nahm einen Film mit. Als wäre das alles selbstverständlich: rausgehen, weil die Sonne auch heute hinter den Wolken hervorkommt, sich bewegen, weil die Sonne sich bewegt, rauf und runter, ohne in den Graben zu fallen. Als wäre es selbstverständlich, Luft in seine Lungen zu lassen. Über meinen Lungen waren schiefe Stoffflicken oder verschiedene Knöpfe, übertriebene Risse oder krallenförmige Kragen.
    »Wiederhole: Xianzai ji dian ?«
    »Was bedeutet das?«
    »Das bedeutet: Wie viel Uhr ist es? Und jetzt gib mir eine Antwort.«
    » Xianzai si dian. Richtig?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Der Satz ist richtig, aber die Uhrzeit stimmt nicht. Es ist sechs, nicht vier.«
    »Na gut, was macht das schon?«
    »Was das macht? Entschuldige mal, aber du kommst jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit. Könnten wir uns denn vielleicht bitte auf eine genaue Uhrzeit einigen?«
    »Und warum?«
    »Können wir uns auf eine genaue Uhrzeit einigen?«
    »Dann müsste ich mir eine Uhr kaufen.«
    »Hast du denn nicht mal eine zu Hause, entschuldige?«
    »Ich hatte eine, aber in der Wohnung an der Victoria Road.«
    »Also, hör zu. Wir sehen uns am dreizehnten um sechs, okay?«
    Dreizehn sechs. Für mich klang das wie Schiffe versenken.
    »Am dreizehnten was?«
    »Wie, was? Dezember.«
    »Ach, klar. Ja, ist gut. Ich gehe jetzt, Wen.«
    Seine Hand hob sich ein bisschen, und die Finger klappten kurz nach vorne. Das ist seine Art, »Ciao« zu sagen. Ich erwiderte den Gruß in einer etwas härteren Version – ausgestreckte Finger und gehobener Arm – und ging.
    Draußen wartete inmitten eines kümmerlichen Blumenbeets eine Mohnblume auf mich. Vielleicht sollte ich sagen, dass sie wunderschön war. Schrecklich rot war sie, rot, röter geht’s nicht. Ihr Stiel schnitt in vollkommener Perfektion durch die Luft, hoch und quietschgrün, die Blütenblätter streckten sich der Sonne entgegen wie Schenkel, die sich aus der prallen und von Bienchen umsummten Blütenkrone reckten.
    Wer gab diesem Ding eigentlich das Recht, so schön zu sein? Wer gibt der Natur das Recht, sich permanent

Weitere Kostenlose Bücher