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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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schwierig war, die Schriftzeichen zu suchen.«
    Er lächelte zufrieden und klappte das Wörterbuch zu. Mir drehte sich der Kopf. Die Tatsache, dass die Suche nach einem Wort so abenteuerlich sein konnte, versetzte mich in einen unglaublichen Rausch. Auf einmal kamen mir meine Übersetzungen für die Waschmaschinenfirma wie furchtlose Missionen vor. Und ich war die mutige Ritterin, die wie eine Goldgräberin auf die Suche nach Bedeutungen geht.
    Wer weiß, wie es wäre, wenn man auch jedes englische Wort auf so komplizierte Weise suchen müsste wie die chinesischen! Und wenn auch die englischen Wörter so hermetisch und geheimnisvoll wären, dass man, um ihren Sinn zu erforschen, einem solch wahnsinnigen Ritual aus Strichen und Nummern, Spalten und Seiten, Schlüsseln und Radikalen folgen müsste.
    »Sehen wir uns am Donnerstag?«
    »Ja, aber was für ein Tag ist heute?«
    »Entschuldige, wie meinst du das, was für ein Tag heute ist? Dienstag, oder?«
    Ich zog meine alte violette Lederjacke an, die auf der Brust zwei Löcher hatte, wie Augen.
    »Und wie viele gibt es denn nun?«
    »Wie viele was?«
    »Na was denn, Radikale natürlich!«
    »Das kommt auf das Wörterbuch an.«
    »Na gut. Dann also ciao.«
    Wen lächelte immer noch.
    Wer weiß, vielleicht öffnet man mit Schlüsseln doch nicht nur das Zimmer mit den toten Ehefrauen von Ritter Blaubart.
    Auf dem Weg kaufte ich mir einen Kalender mit Bildern von Sportwagen. Er hing an einem Plastikständer vor einem Kiosk, und das wahrscheinlich schon länger, weil die Blätter vergilbt und die Ecken abgestoßen waren. Ich fand ihn hässlich, weil ich Sportwagen ebenso verachte wie die Menschen, die darin sitzen, aber es war ein Kalender. Dann ging ich am Markt vorbei und kaufte Stoffe, die mir die stämmige Verkäuferin mit den himmelblauen Augen in eine leuchtend rote Tüte packte. »Danke, Liebes«, sagte sie. Daran gewöhnt man sich nie, dass hier in Leeds wildfremde Leute »Liebes« zu einem sagen, aber manchmal kann man es brauchen.
    Zu Hause herrschte Nacht, obwohl es draußen höchstens vier Uhr nachmittags war. Meine Mutter erwartete mich vor dem Fernseher. Ich hängte den Kalender direkt über ihrem Kopf an die Wand. Sie betrachtete ihn mit dem reservierten Blick, mit dem sie jeden bedacht hätte, der ungebeten hereinkommt, und wandte sich dann wieder Will und Grace zu.
    Ich sagte ihr mit einem Blick: Ich bitte dich, reagiere. Wollen wir uns den neuen Woody Allen anschauen, oder soll ich mit dir zu dem russischen Zirkus in der Woodhouse Lane gehen, wo dir doch die Seiltänzer so gut gefallen?
    Sie antwortete mir mit: Schon wieder dieser Blödsinn mit dem Ausgehen.
    Ich ging auf mein Zimmer. Betrachtete die leuchtend rote Tüte. Zog die Stoffe heraus. Es war ein bisschen schwarzer Samt dabei, dann graue Baumwolle mit grünen Schnörkeln, weißes Leinen mit Tupfen und ein Stück chinesische Seide mit großen Blumen, die aussahen wie Pfingstrosen.
    Ich entjungferte den Samtstoff, indem ich daraus zwei runde Flicken nähte, die ich dann auf das rosa Kleid mit der zu engen Brustpartie nähte, etwa auf Höhe der Brustwarzen. Dann schnitt ich den Stoff mit dem Schnörkelmuster längs in Streifen und lochte die ausgeleierte Brustpartie der Trägerkleider aus Wolle hinter einem graugrünen Gitter ein.
    Als es Abend wurde, nahm ich den Overall und verpasste ihm ein Masernmuster aus rot getüpfeltem Leinen, das sich zwischen den Brustspitzen und dem Schritt der Hose erstreckte. Und positionierte dann in einem Anfall von Wahnsinn eine riesige Pfingstrose direkt zwischen den Beinen. Ich lachte, lachte über die gefräßige Möse aller englischen Geliebten von italienischen Journalisten.
    Manchmal kommt die seltene Spezies von Frühling nach Leeds, und alle behandeln sie mit religiöser Andacht, sie reißen sich im Hyde Park die Schuhe von den Füßen wie die Muslime in den Moscheen und ziehen cremefarbene Kleider aus Leinen an, als wären es die heiligen Tuniken, in denen man an einer Zeremonie teilnimmt.
    Doch offensichtlich ist der Frühling hier nur ein Frühling der Vogelscheuchen, die man in Leeds so leidenschaftlich gerne aufstellt. Nur die Engländer glauben an ihn, weil es ihnen normal vorkommt, dass die Gardenien im März im Schnee ertrinken. Sie halten England für das unschlagbare Musterstück der ganzen Welt.
    Ich hingegen nenne den Frühling überhaupt nicht Frühling. Ich nenne ihn Leeds. Meine Mutter nennt ihn überhaupt nichts, weil sie sowieso nicht

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