Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
Vom Netzwerk:
stellte die gemeuchelte Margerite in die Heineken-Flasche.
    Der Januar schritt voran, ohne sich dafür zu grämen, dass er kein Dezember mehr war.
    Auch mein Chinesisch machte Fortschritte. Der Winter hingegen nicht, nicht einmal, als die Sonne den Schnee wegschleckte und uns dann donnernd etwas vorrülpste, ein Gewitter nach dem anderen, aber ich war sowieso drinnen in Wens Geschäft.
    Am Donnerstag, dem siebzehnten Januar, um elf nach sechs, sagte er: »Chinesisch ist eine morphosyllabische Schrift.«
    »Jede Silbe«, erklärte er mir, »ist ein eigenständiges Wort.«
    Er schrieb einen langen Satz nieder.
    »Siehst du? Man teilt ein Wort, doch jede Silbe behält auch als einzelne ihren Sinn bei.«
    Wie die Wespen, die weiterkrabbeln, auch wenn man sie zerteilt hat. Ich stellte mir vor, wie sich die Schriftzeichen, die ich bei mir zu Hause aufgehängt hatte, von der Wand lösten und wegflogen, und wie meine Mutter sie mit einer Schere verstümmelte, während sich die Papierfetzen immer noch weiterbewegten.
    Die rote Katze klimperte im Wind, die Fensterscheiben bebten. Wen zog sich bereits seine Bomberjacke über, blickte auf das unendliche Schneereich hinaus und sagte: »Schau mal.«
    »Was denn?«
    »Die Stadt. Sieht aus wie tot. Da ist nichts.«
    »Aber morgen hört der Schnee auf, Wen. Das haben sie im Wetterbericht gesagt.«
    »Daran glaube ich eigentlich nicht.«
    »Ich auch nicht. Ich hab immer den Eindruck, der Typ vom Wetterdienst verarscht mich.«
    Er lächelte mit gesenktem Kopf und kaute an den Fingernägeln, den Blick ins Leere gerichtet.
    »Ich hab Angst, es nicht zu schaffen, Wen.«
    »Was denn?«
    »Chinesisch zu lernen. Diese ganzen Schriftzeichen. Ich weiß nicht. Es sind einfach zu viele.«
    »Komm mit zu mir nach Hause.«
    »Bitte?«
    »Entschuldige, aber ich … Ich würde dich gerne zu mir nach Hause einladen.«
    »Wo wohnst du denn?«
    »In einem sehr hübschen Dörfchen mit einer Burg.«
    »Ach, und da ist natürlich auch ein Drache, der sie bewacht?«
    »Wie bitte?«
    »Ach nein, ich mache Scherze, zieh nicht so ein Gesicht.«
    »Was für ein Drache?«
    »Das sagt man so. Der Drache aus dem Märchen. Der eine Burg bewacht und auf alle, die sich ihm nähern, Feuer spuckt.«
    »Drachen spucken Wasser, kein Feuer.«
    »Aber was redest du denn?«
    »Entschuldige, aber das ist so, in China spucken sie Wasser.«
    »Ach, das sagt ihr also?!«
    »Ja, und dann bringen sie die Seelen in den Himmel. Bringen sie denn hier in Europa die Seelen nicht in den Himmel?«
    »Mhmm … ich weiß nicht. Hoffen wir’s.«
    »Vielleicht ist es hier ja der Papst, der die Seelen in den Himmel bringt.«
    »Haha! Was sagt du denn da?«
    »Entschuldige, aber ich weiß, dass für euch der Papst mit Gott spricht. Das fand ich immer schon komisch. Aber hör mal, wenn du mit Gott sprichst, gibt er dir dann auch eine Antwort?«
    Er hatte ein knallrotes Gesicht und blickte zu Boden.
    »Wen, lass die Katholiken in Frieden, ich verstehe die auch nicht.«
    »Sie sind mir ein Rätsel. Diese Sachen kapiere ich einfach nicht.«
    »Sie machen auch noch seltsamere Sachen, denk doch nur, dass sie in der Kirche den Leib Christi essen und sein Blut trinken …«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Vergiss es. Hör mal, wann soll ich denn zu dir nach Hause kommen?«
    »Wann du willst. Wir lernen Chinesisch. Und ich koch dir jiaozi.«
    »Was ist das?«
    »Chinesische Ravioli. Die werden dir schmecken. Den Teig machen wir zusammen, wenn du willst. Kannst du denn am Sonntag? Das Dorf heißt Knaresborough.«
    »Klar. Um wie viel Uhr?«
    Er hob eine Faust.
    »Aber was machst du denn, willst du mir eine auf die Nase geben?«
    »Hm? Nein, das hier heißt zehn. Kannst du denn nicht mit den Händen zählen?«
    »In meiner Sprache streckt man alle zehn Finger aus, Wen.«
    Ich lachte. Er nahm die Schlüssel aus der Kasse. Er ging hinaus. Ich folgte ihm. Es schneite nicht mehr, nur eine kleine Sonne hing tief am Himmel, wie ein tiefgestelltes Zeichen auf einer Seite, die Fußnote, in der es etwa heißen könnte: »Aus einem Leben, in dem auf einmal alles möglich ist.«
    Ich ging in gewisser Entfernung hinter Wen her, indem ich mich auf das Rot seiner Windjacke konzentrierte. Die Schneespuren auf dem Asphalt bildeten ein kompliziertes weißes Muster, zerknautscht, wie die klumpige Füllung von Kissen, die man auf dem Dachboden vergessen hat. Und doch kommt irgendwann jemand vorbei und bringt sie wieder an ihren Platz, auf ein Sofa voller Menschen, in

Weitere Kostenlose Bücher