Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
einer Stadt, in der es nicht mehr Dezember ist, in der endlich die Sonne herausgekommen ist und es einen coolen Chinesen mit einer roten Jacke gibt.
Es war einmal, dass meine Mutter an einem Sonntag für Pearl Radio spielte, und in der Zwischenzeit war ich mit meinem Vater unterwegs. In der Hemdtasche trug er ein ledernes Notizbuch, das er in Liverpool gekauft hatte und auf dem »The Beatles Story« stand, was aber gar nichts mit einer Geschichte zu tun hatte, sondern der Name eines Museums war. Ab und zu setzte er sich auf eine Bank und schrieb etwas hinein. Angeblich schrieb er gerade an einer großen Story, doch meiner Meinung nach machte er sich auch Notizen für einen Roman.
Er lächelte mich an, damals war ich noch ein kleines Mädchen, und sagte: Weißt du, Kleines, Geschichten gibt es überall. Das hat mir eine solche Angst eingejagt, dass ich zu Hause meine Zimmertür hinter mir zumachte und mich unter der Bettdecke versteckte.
Am Sonntag, dem zwanzigsten Januar, um neun Uhr fünfzehn und sieben Sekunden bestieg ich den Zug nach Knaresborough.
»Zug« setzt sich aus »Feuer« zusammen.
Der Waggon kam in Bewegung, und an einem gewissen Punkt, nach einem Bahnhof am Stadtrand, wo zwei pummelige Engländerinnen Klatschzeitschriften lasen, befand ich mich urplötzlich außerhalb von Leeds.
Ich wagte es nicht, mir allzu viele Hoffnungen zu machen.
Hinter dem Zugfenster tauchten im Zeitraffer Schafe, Pferde und Kühe auf. Und Bauernhäuser, die alle verschieden aussahen. Sie hörten gar nicht mehr auf zu erscheinen, wie Pop-ups im Internet. Und unter ihnen lag ein einzigartiges leuchtendes Grün, das in den Augen wehtat. Ich konnte es kaum glauben.
Das ganze Leeds mit seinen viktorianischen Villen und seinen lärmenden Nachtclubs, seinen McDonald’s und seinen Einkaufszentren, vor allem aber die armselige Plattheit meines Viertels waren von einem gigantischen und wundersamerweise nicht menschlichen Universum in Geiselhaft genommen. Leeds war ein eiterndes Muttermal in einem riesigen, berückenden Körper, den ich beschämenderweise nie entdeckt hatte.
Ich drückte meine Finger und die Nase an die Fensterscheibe und hätte sie am liebsten für immer dort gelassen.
Noch mehr Schafe. Blumen. Zwei rot-weiße Stangen, wie fürs Springreiten, doch es waren keine Pferde zu sehen. Buchen mit gewaltigen Stämmen und Kronen, die aussahen, als kämen sie gerade frisch vom Friseur.
Jeder dieser gewaltigen Bäume, jeder Grashalm, jeder Schimmel und jede farbenprächtige Blüte, all diese Schönheit war hinter dem Zugfenster strategisch aufgebaut wie im Schaufenster einer Konditorei, an der sich ein armer Schlucker die Nase platt drückt, als wollten sie nur eines sagen: »Fahr wieder nach Hause. Wen gefällst du bestimmt nicht.«
An einer winzigen, menschenleeren Bahnstation stieg ich aus. Am Bahnsteig, vor der geschlossenen Bar, erwartete mich eine Reihe von großen, eindrucksvollen Blumen, für die man einen Scharfrichter gebraucht hätte, um sie zu enthaupten. Stängel wie Pfähle, Blütenblätter wie löchrige Löwenzungen, Blütenkronen wie die romantischen Lampions an Straßen, die nicht die Christopher Road waren.
Ich durchquerte die Absperrung und ging, wie Wen es mir gesagt hatte, die Straße hinab in Richtung Antiquariat. Ich kam an schwarzen oder weißen Häuschen vorbei, deren Fensterläden mit Reitern bemalt waren. Wen stand vor einem kleinen weißen Geschäft mit bauchigen Fensterscheiben und einer Holztür, über der ein Schild mit der geschwungenen Inschrift »Antiquitäten« hing.
Er grüßte mich mit einer winzigen Bewegung seiner Hand, als wäre er sich nicht sicher, was er genau machen sollte. Ich grüßte zurück, indem ich fröhlich mit dem Arm wedelte. Dann stand ich vor ihm.
Er blickte zu Boden, und ich schaute auf seinen Levis-Pullover, ein Imitat, in dessen Aufschrift ein e zuviel war. An den Füßen trug er seine Schühchen aus abgewetztem Leder.
Zusammen gingen wir die Straße in der Nähe des Flusses entlang. Das Wasser war unbewegt und schwarz.
Am anderen Ufer standen ein paar weiße oder sandfarbene Häuschen, und direkt am Fluss viele trockene Bäume, einer neben dem anderen, ein Alphabet aus verkrüppelten Ästen, die seltsame Formeln in die Luft schrieben. Gerade war ich dabei, sie zu entziffern, als Wen die Augen von dem Unkraut, den toten Pflanzen und dem Gestrüpp hob, das sich bis über den Fluss erstreckte wie Hexenhaare, und fragte: »Wie sagt man: › Hier ist es
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