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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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durchzukauen.
    Plötzlich hatten sie alle den vierten Ton, den Ton, bei dem die Stimme so sinkt, bis sie im Graben landet.
    Wen fasste mich an der Schulter.
    »Also, was ist es denn, das du nicht verstehst, Camelia?«
    »Alles.«
    »Ich meinte, im Chinesischen.«
    »Die Radikale.«
    »Aber die habe ich dir doch erklärt, erinnerst du dich nicht? Sie dienen dazu, die Schriftzeichen im Wörterbuch zu suchen.«
    »Ja, das weiß ich, aber wenn es mehrere Radikale in einem Zeichen gibt, wie weißt du dann, welches der Richtige ist, damit du, wenn du ihn suchst, das richtige Schriftzeichen findest?«
    »Da gibt es keine Methode, du probierst sie alle aus.«
    »Machen wir es so: Du sagst mir ein Wort, und ich sage dir, welches der richtige Radikal ist?« Er löste die Verschränkung unserer Hände.
    »Warum? Ich verstehe nicht, was das für einen Sinn haben soll, Camelia.«
    »Hast du mir nicht gesagt, wenn man begreift, welches der Radikal ist, der dem Zeichen zugrunde liegt, dann kann man auch herausfinden, was für ein Typ Wort es ist?«
    »Ja, aber was für einen Sinn hat das? Das ist keine Übung, die einen Sinn ergibt.«
    »Für mich schon. Bist du jetzt mein Lehrer oder nicht? Ich will lernen.«
    Er wurde rot. Und nickte mit gesenktem Kopf.
    Er zeigt auf den Fluss.
    Ich zeichne zwei Tropfen und den diagonalen Wasserfall.
    Er zeigt auf die Sonne.
    Ich zeichne ein Rechteck, das in der Hälfte geteilt ist.
    Er zeigt auf die Erde.
    Ich zeichne ein Kreuz mit einem Querstrich darunter.
    Er zeigt auf die Brücke.
    »Den Radikal für ›Brücke‹ kenne ich nicht.«
    »Nein, ich wollte dir nur zeigen, wie schön sie ist. Findest du nicht?«
    Daran hatte ich nicht gedacht. Ich hatte mir nicht die Frage gestellt, ob die Brücke schön war. Der Tod war mir ins Auge gesprungen, noch bevor ich die Brücke selbst wahrgenommen hatte, es war ihr offensichtlichster Aspekt, deutlicher als ihre Form oder Farbe.
    Ich musste sie mir noch einmal anschauen. Seine Frage war wie bei dem Ratespiel, wo sie dir eine Action-Szene aus einem Film vorspielen, aber nicht wissen wollen, wer umgebracht wurde, sondern fragen: »Welche Farbe hatten die Schuhe des Mörders?«
    Die Brücke. Die Brücke war wie zwei steinerne M in Druckbuchstaben.
    Mausetot und Märtyrer?
    Im Fluss traf die Brücke sich selbst, und im Wasser wurden ihre steinernen Beine zu weichen Frauenbeinen. Die Häuschen dahinter hatten ein Schachbrettmuster, schwarz und weiß, andere waren sandfarben. Alle hatten unterschiedliche Höhen und waren weit verstreut, wie lauter fröhliche Blechdosen aus Harrogate. Dort kommen die Fruchtgummis und Toffees her, die in versiegelten Boxen im Schaufenster stehen.
    Wen schaute auf mein Blatt.
    »Du bist gut.«
    »Stimmt doch gar nicht, das sagst du nur so.«
    »Nein, das meine ich wirklich, du bist intelligent, du bist wirklich eine beispielhafte Frau, so wie die, die in Lienü Zhuan aufgeführt sind.«
    »Schreib es mir auf!«
    »Was denn?«
    »›Beispielhafte Frauen‹ auf Chinesisch.«
    »Na gut.«
    Er wurde rot. Nahm behutsam die Schreibfeder zur Hand. Schrieb lie nü.
    »Aber Wen, in ›beispielhaft‹ … Ist der Radikal rechts nicht der für ›Messer‹?«
    »Ja.«
    »Und der da links, ist das nicht der Gleiche wie in ›tot‹?«
    »Ja, klar.«
    »Sag mir noch andere Zeichen, die den Tod in sich haben.«
    »Die nur diesen Radikal haben, oder das ganze Zeichen?«
    »Gibt es denn Schriftzeichen, die das ganze Zeichen für ›sterben‹ in sich haben?«
    »Na ja, zum Beispiel gab es mal ›schmutzig‹, das zuerst den Tod drin hatte, aber jetzt nicht mehr.«
    »Wie, jetzt nicht mehr?«
    »Weißt du denn nicht, dass die chinesischen Schriftzeichen in den Fünfzigerjahren vereinfacht wurden? Sie haben Teile weggenommen … Entschuldige mich kurz, ich muss telefonieren.«
    Er ging ganz langsam davon, stieg die Treppe hinab und verschwand. Ich blieb allein auf der Brücke zurück. Es flogen zwei blaue Enten vorbei, und auf einmal schäumte der Fluss, wie Milch, wenn sie kurz davor ist, überzukochen.
    Ich schloss die Augen. Für immer zu schlafen, standby, mit einem einfachen Ticket bis dorthin, wo sich die verrottete Seele von Stefano Mega aufhielt. Zu schlafen, während die Enten weiterfliegen und so tun, als wäre das die einfachste Sache der Welt.
    Ich steckte die Hand in meine Tasche, holte das Fläschchen mit den Schlaftabletten heraus und schüttete mir den ganzen Inhalt auf die Hand. Ich steckte sie in den Mund, alle zusammen, wie die

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