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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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wunderschön?‹ «
    Und ich: » Zhege difang hen piaoliang.«
    Und er: »Hier gefällt es mir.«
    Und ich: » Wo xihuan zhege difang.«
    Und er: »Du gefällst mir sehr.«
    Und ich: » Wo hen xihuan ni.«
    »Nein, du sollst es nicht übersetzen, ich will dir sagen, dass du mir gefällst, Camelia. Du bist sehr schön.«
    Er war so rot im Gesicht.
    »Du gefällst mir auch, Wen, wo ye xihuan ni.«
    Er nahm meine Hand – seine war verschwitzt und klein und hilflos –, und meinte: »Und jetzt sag mir, was heißt: ›An diesem Ort sind wir ganz allein.‹«
    » Zai zhege difang zhi zai women.«
    »Nein, nein, nein. Es heißt: Zhege diafang zhi you women.«
    »Wieso denn? Was du da gerade gesagt hast, heißt: ›Dieser Ort hat nur uns.‹«
    »Ja, aber das sagt man so.«
    »Komisch. Das macht mich irgendwie traurig.«
    »Dieser Satz? Aber warum denn?«
    »Weil, wenn man das sagt … klingt das so, als wäre dieser Ort schrecklich einsam, weil er nur uns auf der Welt hat.«
    Wir gingen weiter, und es war wirklich keiner da, nur wir beide, und unsere chamäleonartigen Wörter, die vom Englischen ins Chinesische überwechselten, ohne sich zu häuten.
    Wir hielten Händchen und beschützten sie mit unseren verschränkten Fingern. Wir beschützten sie vor der Kälte und dem Wind und den Dingen, die sterben.
    »Camelia, und jetzt übersetz mir: ›Heute ist schönes Wetter.‹«
    »Warum ist eigentlich in jedem Satz, den ich übersetzen soll, das Wort ›schön‹?«
    »Wie bitte?«
    »Nichts. Das heißt … Jintian tianqi hen hao.«
    »Sehr gut. Und jetzt … Ich lese gerade einen schönen Roman.«
    Stille, weil ich überlegen musste, wie »Roman« heißt. Aber irgendwann wurde auch die Stille übersetzt, da gab es kein Entrinnen.
    » Wo zai kan yi ben hen youyisi de xiaoshuo.«
    »Ja, genau. Und jetzt …«
    »Gefällt es dir, zu unterrichten, Wen?«
    »Sehr. Es gefällt mir über alle Maßen.«
    »Das verstehe ich nicht. Empfindest du dabei nicht eine gewaltige Verantwortung?«
    »Wieso? Nein, es ist einfach nur schön.«
    Er lächelte die Erde und das Unkraut an, aber mich schaute er nie an.
    »Und deine anderen Schüler, wie sind die? Die sind doch bestimmt besser als ich.«
    »Nein, überhaupt nicht, du bist viel besser als sie. Die anderen machen jede Menge Mühe, alles muss ich ihnen tausend Mal erklären. Du lernst schnell, und außerdem sieht man, dass du mit Leidenschaft bei der Sache bist.«
    »Ja, das stimmt, es hat mich gepackt … Bin ich wirklich die Einzige?«
    Knack. Ein Fingernagel.
    »Hmmm. Da war eine, vor zwei Jahren, die auch so gerne Sprachen gelernt hat wie du, und weißt du was, die war auch so schön wie du.«
    »Ich bin doch nicht sch …«
    »Jetzt habe ich jedenfalls zwei Schüler, beide aus Knaresborough wie ich, das ist bequem. Sie kommen zu mir nach Hause, wenn ich nicht arbeite.«
    »Hm.«
    »Was denkst du?«
    »An meine Mutter. Ich mache mir ein wenig Sorgen.«
    »Und warum, wenn ich das fragen darf?«
    »Ich weiß nicht, ob sie die Suppe gegessen hat, die ich ihr gekocht habe. Und ob sie mich braucht.«
    »Ruf sie doch einfach an.«
    »Sie geht nicht ans Telefon.«
    »Und warum nicht?«
    »Das ist alles kompliziert.«
    »Wie meinst du das?«
    »Sie ist nicht … nicht normal. Das heißt … Ach, lass gut sein, das verstehst du nicht.«
    »Das kann ich schon verstehen. Ich habe einen Bruder, der nicht normal ist.«
    »Was soll das heißen?«
    »Im Moment trägst du gerade eines seiner Kleider.«
    »Willst du mir damit etwa sagen, dein Bruder ist der Schneider, von dem du gesprochen hast?«
    »Genau.«
    »Wie alt ist er?«
    »Fünfundzwanzig, zwei Jahre älter als ich. Und du?«
    Es dauerte fast eine Minute, bis ich ihm antwortete: »Einundzwanzig«, als wäre es das Ergebnis einer schwierigen Rechenaufgabe.
    Wir kamen in genau dem Moment bei der Burg an, als die Sonne hinter dem Turm versank. Von der Treppe aus hatte man eine unglaubliche Aussicht auf das Dorf, in dessen Mitte man eine Brücke erkennen konnte. Sie hing über dem Wasser wie ein herrlich geformtes Kruzifix, ein Leib, der alles weiß und alles spürt und genau aus diesem Grunde sterben will.
    Ich konnte mich nicht mehr rühren.
    Das war der tote Körper meines Vaters. Und das da der fast tote Körper meiner Mutter.
    Wen liebkoste mich wieder mit chinesischen Worten, doch auf einmal verstand ich sie nicht mehr, ich nahm sie einfach hin, wie sie waren, Konsonanten und Vokale und Töne, ohne sie mit meinem Gehirn

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