Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
Vom Netzwerk:
Musikkollegen, und die ihrer Programmproduzenten und ihrer Eltern und ihrer Kindheit und all ihrer Gefühle für die Menschen, die sie kennt und die sie noch kennenlernen wird, eine Geschichte für jedermann, für all die Menschen, die waren und die noch kommen, ist das nicht zum Verrücktwerden? Ist es nicht zum Verrücktwerden, wenn man auf einmal überall ist, überall und allgemein zugänglich?
    Reichte es ihr nicht, unangefochtene Protagonistin meiner Geschichte und der meines Vaters zu sein? Nein, es reichte ihr nicht. Nur mir genügte es. Für die anderen fühlte es sich an, als wären sie Zyklopen, wenn sie bloß eine Geschichte haben.
    Wir gingen durch die Harewood Street, und jedes Mal, wenn ich mit dem Finger auf etwas zeigte, sagte er: »Nein, noch nicht.«
    Als wir beim Sender ankamen, gab sie mit ihrem herrlichen Mund gerade allen möglichen Leuten Küsschen auf die Wange, bevor sie sich zu mir herabbeugte. Und da waren sie überall, die Geschichten, die ein Gesicht, eine Nase, Hände und Gedanken haben. An diesem Punkt streckte ich beide Hände aus, damit wir alle drei Hand in Hand gehen konnten. Doch die beiden begrüßten sich nur auf distanzierte Weise, die mir vorkam wie ein Fremdwort, und so ging ich ganz allein zwischen ihnen nach Hause. Sie strahlte und war ungreifbar wie eine Utopie, die Flöte fest an die Brust gedrückt. Er der gramerfüllte Schriftsteller. Und ich.
    »Wer war denn der mit dem Schnurrbart, ist der neu?«
    »Schrei nicht so, Stefano. Das ist der italienische Programmdirektor, von dem ich dir erzählt habe.«
    »Der gefällt dir, stimmt’s? Genau dein Typ, ganz bestimmt ist er das, genau wie der andere, wie hieß der doch gleich, der Oboe spielte?«
    »Lass jetzt bitte gut sein.«
    »Ach komm, hast du mir nicht noch selber gesagt, wie virtuos er ist, hä? Hat er’s dir auch virtuos besorgt?«
    »Ich hab dir gesagt, hör auf zu schreien, die Kleine fängt gleich an zu heulen, und hör mit diesem Gequatsche auf. Heiliger Bimbam, ich hab langsam die Schnauze voll.«
    »Hast du gesehen, Livia, jetzt hast du die Kleine zum Weinen gebracht.«
    Dann war er tot, und die Geschichte war vorbei. Wir danken Livia und Camelia Mega für ihre Mitarbeit bei der Niederschrift. Inhaltsverzeichnis von A wie »Auf geht’s zum Ficken in der Grosvenor Road« bis T wie »Turpey Komma Liz«. Und dann das verheulte Gesicht meiner Mutter, das ein Viertel des Einbands einnimmt.
    Jetzt versteht man, warum im China der Fünfzigerjahre alle Liedermacher in die Verbannung geschickt wurden.
    Ich sah Wen, der die Freitreppe herunterkam und mit gesenktem Blick auf mich zu schritt. Ich sah den besonderen Schnitt seiner Augen. Seinen Körper. Seinen Blick, den er hob, um dem meinen zu begegnen.
    Ich spuckte die Pillen in ein Büschel Narzissen.
    Wen öffnete den Mund und fragte: »Was hast du da weggespuckt?« Ich machte den Mund auf und küsste ihn lange. Ich schloss die Augen. Öffnete sie. Schloss sie wieder. Öffnete sie. Betrachtete ihn mir genau, diesen Ort, der nur uns hatte.
    Es begann der Februar, und dieser Beginn hatte Einfluss auf alles. Jedes Ding um mich herum hatte auf einmal die seltsame Angewohnheit, zu beginnen.
    Zum Beispiel gefiel es mir auf einmal wirklich, in der Stadt spazieren zu gehen. All die Geschäfte voller Dinge, der Wunsch, alles zu kaufen, immer in einem anderen Pullover in den Unterricht zu gehen. Und die Sonne begann alle drei Stunden aufzugehen und mich daran zu erinnern, dass ich einen Grund zum Leben hatte. Und auf meinem Fernseher fingen die ganze Zeit neue Sendungen an, ohne dass sie auch endeten, alles war ein einziges Irrenhaus aus Vorspannen, die, kaum hatten sie aufgehört, mit der folgenden Sendung weitermachten.
    Auch in meinem Körper begann etwas, in meinem Gehirn, auf meiner Haut. Blut und Hitze strömten auf gewisse, geheimnisvolle Weise zusammen, ich träumte viel.
    Oft fand ich mich am Fenster wieder, und es wehte diese seltsame Brise, die fast lau war. Ich schaute auf den schmutzigen Schnee, der taute, und auf die Grashalme, die sich allmählich einen Weg nach oben bahnten.
    Nicht, dass ich viele Dinge gehabt hätte, über die ich nachdenken musste. Ich meine, abgesehen von den offensichtlichen Gedanken, die mich als Person, die sie dachte, gar nicht gebraucht hätten. Doch vor allem war da der Gedanke, dass Wen nicht in den Graben fallen würde.
    Meine Mutter erschien im Zimmer, die schmalen Lippen mit Zahnpasta verschmiert. Ich machte ihr ein Zeichen, sich

Weitere Kostenlose Bücher