Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Oblate beim Abendmahl. Nehmet, das ist der Leib meines Vaters, der gestorben ist, um unsere Sünden wegzunehmen.
Es ist leicht, unsere Sünden wegzunehmen, viel leichter, als einen Fisch zu entgräten. Man muss nur die Haustür hinter sich zumachen, so wie es meine Mutter und ich am Tag des Unfalls machten. Mit einer einfachen Drehung des Schlüssels im Schloss lässt man ihn draußen, den wahnwitzigen Wirbel der Welt.
Und weg mit den Geschichten.
Weg mit den Filmen.
Weg mit allem.
Weg mit dir. Wart auf mich, Papa.
Die Pillen schmeckten wie Johannisbeer-Milkshake.
Eines Sonntags, als ich noch klein war, erinnere ich mich, wurde es Dezember. Ganz plötzlich. Oder wenigstens genug Dezember, um die Dinge des Universums zu hassen. Doch ich spazierte mit meinem Vater, meine gelb behandschuhte Hand in seiner schwarz behandschuhten, durch den Hyde Park und sah die vielen verschneiten Bäume, aufmarschiert wie Kleiderpuppen in einem Geschäft für Brautmoden, als würden er und ich heimlich heiraten.
An jenen Sonntagen, die aus Schnee und langen Spaziergängen gemacht waren, nahm er meine Hand, nach einer Stippvisite im Videoverleih, und hielt in der anderen Kwaidan oder irgendeinen anderen der japanischen Klassiker, die er liebte, und ich fragte ihn: »Worum geht es darin, Papa?«
»Es sind verschiedene Geschichten, Kleines, aber die schönste erzählt von einem blinden Mönch, der wunderbar die biwa spielt, und alle Gespenster kommen herbei, um ihn spielen zu hören.«
»Und, hat er keine Angst?«
»Nein, weil er blind ist und gar nicht weiß, dass es Gespenster sind. Aber dann finden die anderen Mönche es heraus, und weißt du, was sie da machen, um die Gespenster für immer zu vertreiben?«
»Keine Ahnung.«
»Sie bemalen ihn am ganzen Körper mit chinesischen Schriftzeichen. Sie vergessen jedoch das Ohr, weshalb die Gespenster es ihm abreißen.«
»Ich hab Angst, Papa, ich mag keine Geschichten mehr hören.«
»Aber Kleines, das ist unmöglich, Geschichten sind überall. Man braucht sich nur die Menschen auf der Straße anzuschauen, oder den Fernseher einzuschalten, oder auch …«
»Hör auf! Ich will keine Geschichten mehr.«
Ich hatte meine Hand aus seiner weggezogen und war auf die Bäume zugelaufen. Ich versuchte sie der Reihe nach zu berühren, einen nach dem anderen, während ich lief, und vergaß keinen Einzigen, wobei ich mir die Handschuhe mit Harz und Erde verschmierte.
Mein Vater, der mit der hellbraunen Bomberjacke, schrie: »Camelia, komm hierher, was machst du denn?«
Die anderen Menschen – es waren so viele – liefen überall herum.
Es geschah immer häufiger, immer am Sonntag, nachdem er die ganze Woche über bis spät gearbeitet hatte und sie zu Hause bei mir Flöte spielte. Es geschah, dass ich und mein Vater die glücklichen Hauptfiguren in Leeds spielten. Dann wühlten wir uns in der Stadt vorwärts, bis wir im Zentrum mit all seinen alten Häusern und den Döner-Ständen waren, den Geschäften mit Schuhen, die wiederum Kopien von anderen Schuhen waren, und uns auf dem Markt verliefen, auf dem hässliche Unterwäsche und bunte Vasen mit eingebauter Beleuchtung verkauft wurden.
Oder wir holten uns bei Fruity-Joe einen Johannisbeer-Milkshake, im obersten Stock, er mir gegenüber und ich mit baumelnden Beinen und dem Strohhalm im Mund.
Ich schaute mir durch die halbmondförmigen Fenster die Leute an, dachte über ihr Leben nach, das von da oben winzig klein aussah und mir folglich auch keine Angst machte.
Wenn wir dann zurückgingen, waren wir noch glücklicher, ich schmiegte meine Hand in das Nest seiner Hand, dann holten wir meine Mutter ab und gingen alle zusammen nach Hause. Und dann und dann und dann. Der Sonntag war immer voll von diesen »und dann und dann und dann«.
Vor Sainsbury’s kritzelte mein Vater etwas in sein ledernes Notizbuch, dann nahm er wieder meine Hand, und schon gingen wir weiter, er sagte mir zum hundertsten Mal: »Kleines, Geschichten gibt es überall«, und machte damit alles kaputt.
Auf einmal tauchten um unsere an den Händen vereinten Körper verschiedene Menschen auf, die in der Lage dazu waren, zu denken handeln verletzen töten. Alles war kaputt. Wir waren nicht mehr allein und in Sicherheit und unsterblich.
Ich bat ihn, mit mir »Schere, Stein, Papier« zu spielen, aber er sagte nur: »Jetzt reicht’s mit spielen, Camelia, Mama wartet im Sender.«
Klar, dort drinnen wartete auch eine Geschichte – ihre.
Und darin die Geschichte ihrer
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