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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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da?«
    »Mittwochs bin ich da. Du bist seine Freundin, stimmt’s?«
    »Nein.«
    »Er hatte kein Hemd an.«
    »Warum hast du uns belauscht?«
    »Ich hab euch nicht belauscht, ich war dort, weil ich ihm etwas sagen musste.«
    Beim Reden fuchtelte er mit den Armen.
    »Und warum bist du dann in der Tür stehen geblieben?«
    »Sei nicht so gemein zu mir.«
    »Ich bin nicht gemein zu dir!«
    »Du redest aber so. Gib mir das Geld und verlasse mein Geschäft.«
    »Du bist aber schlecht erzogen!«
    »Du hast mir doch die Klamotten verhunzt!«
    »Wen sagt, das machst du auch. Da, das ist alles Geld, das ich habe. Morgen bringe ich dir noch mehr. Diese Sache hier musste ich einfach machen.«
    »Zieh dir das Kleid aus.«
    »Wie bitte?«
    »Das hast du von hier geklaut.«
    »Nein, das habe ich aus dem Müllcontainer geholt, das hab ich nicht geklaut.«
    »Dann hole ich es mir jetzt zurück!«
    »Aber bist du denn blöd? Ciao, ich gehe jetzt.«
    Er schaute mich an. In seinen Augen leuchtete ein Ausdruck stumpfsinniger Schamlosigkeit.
    »Warte, nicht gehen. Noch etwas.«
    Ich drehte mich um.
    »Du bist schön.«
    »Hä? Ich bin überhaupt nicht schön. So ein Schwachsinn.«
    »Du hast grüne Augen.«
    »Ja, wie Schimmel so grün.«
    Ich ging hinaus. Die warme Luft legte sich wie eine Klammer um meine Oberschenkel. Ich setzte mich in Bewegung.
    Kein Problem. Ich kehre zu meiner Mutter zurück, nach Hause, alles ist wie immer, ich schalte den Fernseher ein, ich dusche. Aber ich schwitzte, ich war durchnässt, ich ging an der Kirche und am Supermarkt vorbei, an der Mauer, hinter der sich nichts verbarg.
    Kein Problem, ich gehe heim und mache mich wieder zum Leibwächter meiner Traurigkeit. Ich kehre zu meiner Mutter zurück, nach Hause, in das Reservat meiner trüben Erinnerungen. Auf Höhe der Apotheke blieb ich stehen. Drehte um.
    »Hör mal, du hast recht. Nimm du das Kleid.«
    Ich zog es mir aus und trat, nur noch in der Unterhose, auf ihn zu. Er guckte dumm aus der Wäsche. Er hatte einen schönen, schlanken Körper, lange Beine, und seine Nase war ebenso schmal wie die seines Bruders. Insgesamt gab es da inmitten dieses dumpfen Gesichtsausdrucks die vage Möglichkeit von Schönheit, man musste sich konzentrieren, um sie zu erkennen, musste sie nur wegspülen von der weißen Lagune dieses tumben Gesichts.
    Unter dem Tisch bückte ich mich zu seinen alten Jeans mit dem hohen Bund hinab und knöpfte sie ihm auf. Er roch nach Schweiß und nach 0815-Duschgel. Ich näherte den Kopf seinem Slip mit einer Heftigkeit, als wollte ich damit gegen eine Wand donnern.
    Er wollte etwas sagen, konnte aber nicht, ich sah die Ausbuchtung seines Atems in der Brust, die sich aufblähte, und die Worte, die ihm in der Kehle hochstiegen und den länglichen und roten Mund aufsperrten. Dann verloren sie an Beständigkeit, sie wurden zu einem Seufzen, und er seufzte immer stärker.
    Ich ging vor und zurück, füllte mir den Mund mit ihm, mit Worten, die er nicht sagen konnte, mit denen von Wen, die der nie ausgesprochen hätte, mit denen, die meine Mutter nicht mehr sagte und die nach Gummi schmeckten.
    Ich machte weiter und weiter, die Sonne brannte auf mir und brachte mich zum Schwitzen. Dann öffnete er den Mund. Es waren andere Worte, die zu Seufzern wurden, dann zu Stöhnen, fast zu Schreien, er schloss halb die Augen, dann ganz. Sein Mund war wie eine plumpe Mondsichel, die der Erde zu nahe gekommen ist.
    Ein Windstoß brachte die rote Katze zum Klimpern, ich drehte mich um, die Katze sah aus wie erhängt. Ich wandte mich wieder Jimmys Slip zu, fixierte ihn mit den Augen, und einen Moment später ergoss er sich in meine Kehle.
    Er legte den Kopf in den Nacken, streckte die Beine über meinem zusammengekauerten Körper. »Danke«, sagte er, »danke, Verlobte meines Bruders.«
    Als ich nach Hause kam, sah ich, dass meine Mutter auf dem Sofa lag und schlief, obwohl es fast Zeit zum Abendessen war. Sicher hatte sie den ganzen Tag über geschlafen, war auch am Morgen nicht aufgewacht. Sicher hatten weder die Bauarbeiter auf der Straße sie geweckt, noch das Flugzeug, das eine Stunde zuvor im Tiefflug Headingley überquert hatte.
    Ich betrachtete den langen Bogen des Armes, der den Kopf stützte, weiß und angespannt, jenen Bogen, der allein schon die Synthese all der Geometrie war. Ich betrachtete ihren Mund mit der leicht vorgeschobenen Unterlippe. Zuerst hatte ich den Eindruck, sie wolle mir immer noch etwas sagen, dann jedoch wurde der Mund wieder

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