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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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Zimmer.
    Offenbar wollte ich sie beschützen. Deshalb ließ ich sie auch zuerst nie allein, um sie vor den Geschichten zu beschützen. Während ihr Zimmer unter all dem Staub, den Spinnennetzen und den Staubflusen verrottete, nahm es mit Freuden an ihrem Tod teil, wie die geheime Kammer von Blaubart.
    »Ich nehme das nicht hin, verdammt noch mal!«
    Draußen war es Tag, und während ich die Kondolenzblumen einsammelte, hatte er die Gunst der Stunde genutzt und war noch mehr zum Tag geworden. Das Licht warf spermaförmige Aureolen auf die verschmierte Fensterscheibe. Ich riss mit Gewalt die Naht auf, mit der ich die beiden Hälften des Vorhangs vernäht hatte. Dottergelb ergoss sich das Licht von draußen ins Zimmer. Ich hatte Tränen in den Augen und erhob nach Jahrhunderten des Schweigens die Stimme.
    Meine Mutter hielt sich die Ohren zu, und auch Will und Grace in der Glotze schienen sich taub zu stellen.
    »Warum schaust du mich so an, Mama? Komme ich dir vor, als wäre ich verrückt? Kommt es dir verrückt vor, leben zu wollen? Schau, dazu braucht man Mut, verdammt noch mal. Man braucht Mut zum Reden, und dazu, sich nicht mehr zu Hause einzuschließen! Genug! Wir …«
    Sie unterbrach mich mit dem Blick, der sagte: Warum behandelst du mich so?
    Gerade wollte ich antworten, als ich spürte, wie mir etwas in der Kehle hochstieg und ich einen bläulichen Strahl auf den Teppichboden würgte. Er lautete: Kommt es dir verrückt vor, leben zu wollen? Und dann: Schau, dazu braucht man Mut.
    Livias Blick, mit dem sie mir, auf die Kotze gerichtet, antwortete, bedeutete: Schau, was du angerichtet hast.
    Ich zog mir die Lederjacke mit den beiden Zwillingslöchern über und ging.
    Gott, wie viel Licht.
    Draußen war es nervig mild, die Blumen öffneten sich gierig unter den wilden Liebkosungen einer übertriebenen Sonne.
    Das Kleid aus grauer Wolle mit den unterschiedlichen Armen hing schwer an meinem Körper, mir brach ein schizophrener Schweiß aus, der auf der Brust und den Schenkeln regelrecht kochte, auf den Armen jedoch tobte wie ein Irrenhaus aus eisigen Entladungen.
    Ach ja, es musste wirklich März sein. Erschreckenderweise März.
    Ich kehrte nach Hause zurück. Dort war es natürlich eher Dezember. Ich nahm das gelbe Kleid mit den krankhaften Auswüchsen aus Gaze und schnitt ihm die Ärmel und den halben Rock ab, dann vergrößerte ich den Ausschnitt bis zur Hälfte der Brust. Ich zog es an. Ich schaute mich im Badezimmerspiegel an. Eine Mischung aus Zahnpasta und Atemdampf kletterte daran hoch und teilte ihn in zwei Hälften.
    Da waren zwei riesige grüne Augen.
    Da war ein ausgezehrtes Gesicht mit zwei hohlen Wangen wie die Schaufeln von Totengräbern.
    Da war eine große Nase.
    Nicht gerade riesig, würde ich sagen, aber sicher auf Google Maps erkennbar.
    Da war ein Mund. Da waren meine kümmerlichen ein Meter sechzig, eingepfercht in die sechzig Zentimeter Spiegelfläche, damit man sich richtig darüber totlachen konnte.
    Da waren die Haare.
    Meine Haare, die normalerweise todtraurig glatt sind, hingen mir in fröhlichen Wellen um die Schultern, und aus dem matten Schwarz war ein glänzendes, lebendiges Tintenschwarz geschlüpft, auf dem sich das Licht im Zickzackmuster brach. Und was die gespaltenen Haarspitzen anbelangte, so waren sie auf geheimnisvolle Weise verschmolzen und sahen kraftvoll und gesund aus.
    Ich kämmte mich zehn Minuten wie wild, doch meine Haare blieben einfach so, einschließlich der Tänzerlocke auf meiner Stirn.
    Ich ging aus dem Haus.
    Ich ging auf das Geschäft zu, umgeben von einem gefräßigen und lärmenden Licht, wie eine läufige Katze.
    Ich ging, und ich schwitzte. Ich kam an der Tankstelle und am Blumenladen vorbei. Es freute mich, sie dort zu sehen, diese Blumen mit den verstümmelten Wurzeln, wie sie mit ihrem gezierten Duft auf den Strich gingen. Es freute mich, die Hände des Blumenhändlers zu sehen, der wie ein Zuhälter die schönsten Rosen aussuchte, sie band und die Stängel in dicke Mieder aus Stanniol hüllte.
    Dann sagte er: »Hier, bitte schön« und hielt sie dem jungen Mann im Trainingsanzug hin, wer weiß, ob sie für seine Frau waren, aber was sage ich, es lag doch auf der Hand, dass er sie für seine Geliebte kaufte. Und während er ins Auto stieg, vergrub er die Nase in diesen feuchten und roten Blütenblättern, schloss die Augen und lächelte. Er lächelte, weil er eine Geliebte hatte und seine Frau nichts davon wusste, er lächelte, weil ich hingegen von

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