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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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erinnere mich daran, wie sie noch lebendig gewesen war, als sie wirklich noch am Leben war.
    Ich erinnere mich an das leuchtende Weizenblond ihres Haares, an das aufrichtige Himmelblau ihrer Augen. All das betrachtete ich von unten, so, wie man eine Statue betrachtet, und auch in späteren Jahren hatte ich sie immer noch von unten angesehen, weil ich größenmäßig bei den ein Meter sechzig meines Vaters stehen geblieben war. Außerdem waren meine Haare rabenschwarz wie die meines Vaters, doch meine Mutter sagte, ich sei schön. Damals hat sie mir so viele Dinge gesagt.
    Er hat auch ihre Schönheit besiegt, denn er war klein und hatte eine markante Nase, doch dann war seine Hässlichkeit für immer stehen geblieben, auf einem Foto in der Zeitung bekommt man keine Falten, während die Schönheit meiner Mutter sich abwetzt und verbleicht wie ein altes Plakat.
    Dabei geht es gar nicht mehr um Schönheit. Wenn ich jetzt an Schönheit denke, dann ist es so, als würde ich auf ein Pferd zeigen, dem die Eingeweide aus dem Bauch hängen. Wenn ich mittlerweile das Wort Schönheit auch nur ausspreche, fällt Regen, der mir den Mund reinwäscht. Wenn die Schönheit heute auf der Christopher Road vorbeikommt, rammt man ihr ein Messer zwischen die Rippen.
    Ich ging auf meine Mutter zu, um ihr einen Kuss zu geben, lief aber dann doch bloß wütend auf mein Zimmer.
    Wer weiß, ob ihr sagtet, dass sie Cate Blanchett ähnelt, wenn ihr sie jetzt sehen würdet.
    Am Tag darauf wachte ich auf, zog mir das weiße Kleid mit den Knöpfen an den unmöglichsten Stellen an und ging in das Geschäft.
    Da war es, das menschliche Zeichen, das heißt: »Hau ab von hier«. Da war es in der ganzen Unbeweglichkeit, in die ich mich unsterblich verliebt hatte. Da war es, und es zeigte sein Erstaunen darüber, mich zu sehen, wie ich den Blick über den Boden wandern ließ, und dann grüßte es mich mit schlaffer Hand, aber bloß, um mich daran zu erinnern, dass es ihm wirklich einmal gelungen war, zu fliehen, und das war, als meine Hand seine Hose aufknöpfte.
    Hätte er mich an jenem Tag nicht zurückgewiesen, hätte er es mit seiner unterwürfigen Art zugelassen, dass ich ihm die Jeans ausgezogen hätte, sodass er nackt war, bis zu dem Punkt, an dem eine Flucht einfach nicht mehr möglich ist, dann wäre seine Rolle als Männchen auf dem Notausgang-Schild kläglich gescheitert.
    Denn es ist die Ausnahme, die das Männchen auf dem Notausgang-Schild zu dem macht, was es ist. Damit seine ewige Unbewegtheit mit dem laufenden Bein, das in der Luft hängt, ihre Glaubwürdigkeit behält, muss auch der kleine Mann bisweilen die Flucht ergreifen. Wer würde sonst aus freien Stücken weglaufen?
    Ganz gewiss bedarf es eines gnadenlosen Talents, das Männchen auf dem Notausgang-Schild zu sein. Um sein Opfer zu werden, braucht es hingegen gar nichts, man muss nur weggeworfene Klamotten aus dem Müll klauben, und schon findest du dich im Handumdrehen wieder, wie du vor seiner heruntergerutschten Jeans kniest, wie ein Lymphom der Liebe im Gehirn.
    »Bist du noch böse auf mich, Camelia? Denn weißt du, ich …«
    »Nein.«
    »Ich wusste, dass du es verstehen würdest. Ich hole gleich das Chinesisch-Buch. Ich wusste, dass du wiederkommen würdest. Ich habe ein Geschenk für dich.«
    Er tauchte einen Moment lang unter den Tresen, holte eine rote Tüte.
    »Das hat meiner Mutter gehört.«
    Ich nahm es entgegen. Es war ein Wörterbuch Chinesisch-Englisch aus dem Jahre 1945.
    »Da ist was Besonderes dran, schau mal auf Seite 2.«
    »Liste der Zeichen mit unklaren Radikalen.«
    »Witzig, nicht?«
    »Es ist schön.«
    Und so kam es, dass ich mit dem Chinesischunterricht weitermachte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sagte mir, im September würde eine Prüfung stattfinden, an der ich teilnehmen konnte, eine von den offiziell anerkannten, für die man ein Zertifikat bekommt. Und so ließ ich mir noch mehr Hausaufgaben aufbrummen und ging auch wieder öfter zu ihm.
    »Und das hier sind die resultativen Verben.«
    »Das bedeutet?«
    »Dass das, was du mit einem Verb ausdrücken willst, das Ergebnis aus zwei Verben ist, die aneinandergehängt werden. Zum Beispiel schau mal hier: ›lernen‹ schreibt man ›studieren‹ plus ›gelingen‹, denn wenn dir das Studieren gelingt, hast du etwas gelernt.«
    Auf dem Nachhauseweg vergaß ich, nach Hause zu gehen.
    Meine Beine bewegten sich immer weiter, und auf einmal befand ich mich in genau dem magischen Moment im Zentrum,

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