Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
Vom Netzwerk:
ganz jungfräulich.
    Ich betrachtete das komplizierte Muster der Falten in ihrem Jogginganzug, die sich auf Höhe der Brüste bildeten, welche einen Halter brauchten, weil sie sich selber nicht mehr halten konnten. Ich stellte mir vor, wie es wäre, diese Falten zu lesen, darin über ihren Tod zu lesen, so wie man jemandem aus der Hand liest.
    Ich betrachtete den runden Knochen ihres Knöchels und den dicken Vorsprung der Venen an ihren Füßen. Ich dachte an die Verschwendung, die diese Frau in sich anhäufte, an die Verschwendung von Körper und Gehirnmasse, von Tagen, von Existenz, und ich wusste, dass irgendwo in ihr bestimmt eine Art von Genugtuung darüber herrschte, dass sie mich an dieser Verschwendung teilhaben ließ.
    Eine heiße Wut stieg in mir auf. Ich sammelte ihre Fotos von Löchern in einer Tischdecke vom Boden auf und ging auf die Suche nach all den anderen, die sie in ihrem Zimmer aufbewahrte. Ein Geruch nach Urin, Schweiß, altem Holz, verbrauchter Luft und nach Kartoffelchips implodierte inmitten dieser grauen Wände wie komprimierte Luft. Ich öffnete das Fenster, nein, es ging nicht auf. Mit zugehaltener Nase fuhr ich einen Slalom zwischen den schmutzigen Unterhosen auf dem Boden und den Supermarktkatalogen. Ich fand neununddreißig Fotos.
    Darauf abgebildet waren Löcher aller Art. Angewidert schmiss ich alles in den Müllcontainer vor unserem Haus. Dann nahm ich die Supermarktprospekte, schnitt vier große rote Äpfel und sechs lange, leuchtend gelbe Bananen aus, außerdem zwei quietschbunte Gummispielzeuge für Hunde, solche, die Krach machen, sowie zwei rote Umstandskleider.
    Zum allerersten Mal versteckte ich ihre Polaroid in dem Zimmer, das abgeschlossen war, zwischen all den Dingen, die wehtun, den Dingen, die meinem Vater gehört hatten.
    Dann hängte ich alle Bilder im Wohnzimmer auf, zwischen den Schriftzeichen. Und nicht nur das: Auf jedes Bild schrieb ich in eine Ecke seinen Radikal, damit es bloß keine Verwechslungen gab.
    Als meine Mutter ihre Bilder sah, die alle mit einem chinesischen Schriftzeichen versehen waren, sprang sie mit einer Wut vom Sofa auf, die sie seit Jahren nicht mehr an den Tag gelegt hatte, und riss sie von der Wand. Das letzte Mal, als ich sie mit solcher Heftigkeit hatte agieren sehen, war gewesen, als sie noch Aufnahmen für das Radio machte, als sie tanzte und mein Vater glücklich lächelte. Damals waren wir gerade erst umgezogen, nachdem man ihm einen Job bei Leeds Daily angeboten hatte. Wenn ich heute die Typen sehe, die auf der Straße mit der Zeitung wedeln und schreien: » Leeds Daily, bitte!«, dann könnte ich sie erwürgen.
    Meine Mutter war immer noch dabei, die Bilder abzureißen, und als sie damit fertig war, ließ sie sich wieder auf das Sofa sinken. Sie schloss die Augen.
    Schau sie dir an, Papa, schau dir deine Frau an, schau dir die faule Frucht deines Todes an.
    Ich hasste ihn mit einer unglaublichen Wucht. Nicht, weil er meine Mutter betrogen hatte, nicht, weil ihn das umgebracht und mich für immer eines Vaters beraubt hatte, sondern weil er nur ein einziges Mal gestorben war, während ich jeden Tag von neuem starb, und sie auch.
    »Komm, Mama, jetzt gehen wir mal duschen.«
    Sie antwortete mir mit einem verwirrten Blick, schloss dann die Augen wieder, streckte die Beine auf den fadenscheinigen und ausgeblichenen Kissen des Sofas aus und wandte den Blick in meine Richtung, auf mich. Die Falten, die grausamerweise ihre Augenwinkel bis zum Haaransatz verlängerten, schienen ihren Blick zu erweitern, als könnte sie mehr sehen als andere, da bin ich mir sicher. Sie sah alle schrecklichen Dinge, die sich in der Leere verstecken, die in Gräben auf der Lauer liegen.
    Ich stieß mit dem Filzstift nach der Lehne des Sofas, neun Wunden aus Tusche, aus denen das Zeichen für »Hass« besteht. Darunter hatte ich ein pochendes Herz gezeichnet, das überhaupt nicht den idiotischen Herzen ähnelt, wie man sie sonst so darstellt, denn das Zeichen ähnelt einem richtigen Herzen, einem schlaffen, triefenden Sack, der heftig das Blut ins Gehirn pumpt, darüber wölbt sich die Nacht, daneben steht jemand, der sich umdreht.
    Auch meine Mutter drehte sich um und sah niemanden, weder das Herz noch die Nacht. Sie richtete den Blick einfach auf einen bescheuerten Punkt am Boden. Verdammt, vorher war sie so schön gewesen. Alle hatten gesagt, sie sehe aus wie Cate Blanchett, mit ihren hohen Wangenknochen, der schmalen Nase, ich erinnere mich noch genau. Ich

Weitere Kostenlose Bücher