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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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auf dem Kieker.«
    »Inwiefern?«
    »Er zwingt mich, im Geschäft zu bleiben, und will nicht, dass ich rausgehe. Du kennst doch das Zimmer mit der roten Tür …«
    »Aber …«
    »Und ich mach ihm dafür jede Menge Klamotten kaputt, bätsch.«
    »Aber dann bist es gar nicht du, der sie näht.«
    »Nein, die kommen so aus China, und ich verändere sie, was denkst du denn! Dann schmeißt er sie weg, aber früher habe ich sie wieder aus der Tonne geholt und sie zurück in den Verkauf gebracht, aber jetzt schmeißt er sie irgendwo weiter weg in den Müll.«
    »Mein Gott, ihr seid mir zwei Verrückte, alle beide.«
    Ich schaute ihn an, den langen, durchgedrückten Rücken über den Fliesen des Zugklos, die Beine, die er etwas verdreht übereinandergeschlagen hatte, die schlanken Füße, den immer verblüfften Blick, die feine Nase, den Mund, wie eine breite, blutige Schlinge, und auf einmal kam er mir vor wie jemand, den ich als Figur aus einem Buch kannte, als wäre er einer ganz anderen Geschichte entsprungen, einer von denen, die mein Vater immer gesucht hatte, einer von denen, die wie Tauben überall sind, aber man fasst sie nicht an, weil sie schmutzig sind, eine Figur, die erst in diesem Moment aus ihrer dreckigen kleinen Geschichte in meinen Waggon herabgesprungen war, in mein blutbespritztes Zugklo, meinen Körper, ohne jemals um Erlaubnis zu fragen.
    »Warum schaust du mich so an, Camelia?«
    »Bist du sicher, dass dieses Mädchen am Leben ist?«
    »Klar.«
    »Warum behauptest du dann, er würde uns umbringen?«
    »Jetzt hör schon auf, mich wie eine Verrückte anzuschauen. Du machst mir Angst!«
    »Du bist hier der Verrückte, Mann! Du und dein Bruder! Warum sollte er glauben, wir wären zusammen, wenn er mich zurückgewiesen hat? Ich wollte mit ihm schlafen, aber er wollte nicht! Ich wollte, dass er mit mir geht! Ich war verliebt, verdammt noch mal ….Ich wollte einfach nur glücklich sein! Und nun, schau mal, vögele ich mit einem Idioten auf dem Zugklo! Meine Güte, ich hätte doch von Anfang an wissen müssen, dass man sich mit zwei so Verrückten wie euch besser nicht einlässt! Schon von Anfang an.«
    Rate, rate, weißt du’s besser? Der Radikal von »Anfang«, der heißt »Messer.«
    Jimmy hörte gar nicht mehr auf zu weinen. Ich blieb dort stehen, eingeklemmt zwischen dem Klo und dem Waschbecken.
    Mir war schlecht, mein Bauch war aufgedunsen wie eine Trommel, und ich knöpfte mir wieder die Hose zu, hatte aber das Gefühl, dass sie sogar an den Beinen ganz eng war. Ich spürte, wie die Steine des Blutes sich in meinem Bauch lösten und in einem Strudel über meine Schenkel ergossen, und da zog ich mir endlich die Hose aus und schaute dem Blut ins Gesicht, dieser weichen Schicht, die die Körperhärchen verklebte und erst über den Knien aufhöre, zwei breite rote Striche wie Teufelsfinger.
    Ich leerte den Rucksack auf dem Boden aus, um nach einer Binde zu suchen. Heraus fielen zehntausend Schriftzeichen auf gelben Post-it-Zetteln, da war auch das von »zusammenbrechen«, dann das von »zehntausend« und das von »chinesisches Schriftzeichen«, und mittendrin ein weißes Blatt Papier, das ich auseinanderfaltete, ach ja, die Übersetzung für die Waschmaschinenfirma, genauer gesagt die letzte davon, wo waren bloß die anderen, und, meine Güte, wann sollte ich die eigentlich abgeben?
    Darauf stand: »Es gibt zwei Möglichkeiten, das Programm zu beenden:
    Die Wäsche soll geschleudert werden.
    Die Wäsche soll nicht geschleudert werden.
    Das heißt, es gab zwei Möglichkeiten, das Programm zu beenden:
    Selbstmord.
    Mord.
    Eine Binde gab’s nicht. Ich stopfte mir ein paar Tempos in die Unterhose. »Ich glaube, wir sind gleich in Leeds.«
    Er sagte: »Noch drei Haltestellen.«
    Und ich sagte: »Ich hasse dich, ich muss sterben.«
    Als ich zu Hause war, zog ich mich um und ließ mich aufs Bett fallen. Es war sieben Uhr abends, und ich fühlte mich erschöpft. Das Zimmer war schrecklich in Unordnung, T-Shirts und Socken überall, und aufmüpfige Schriftzeichen, denen der Wind dabei geholfen hatte, von der Wand abzuhauen. Bringen wir unsere Gedanken wieder in Ordnung, morgen Chinesischunterricht, und ich muss noch Hausaufgaben machen, wo habe ich das Heft hin, und die Übersetzung, und wo ist bloß das andere Blatt …
    Über alldem hatte ich meine Mutter vergessen, wer weiß, ob sie etwas gegessen hatte, wer weiß, ob sie sich gewaschen hatte, wer weiß, ob sie etwas gebraucht hatte, während ich nicht da

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