Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
schief an, und so machte ich es gleich wieder zu und ging, während sie sich wieder zur Wand drehte, die fettigen Haare zu einem schmutzigen Zopf gedreht. Zum ersten Mal ließ ich ihre Tür sperrangelweit offen stehen, wie einen offenen Sarkophag.
Ich zog mich um und ging schlafen. An einem bestimmten Punkt der Nacht, wer weiß, wie viel Uhr es war, einem ungenannten und schmählichen Punkt der Nacht, wurde mir mit aufgerissenen Augen bewusst, dass ich uns nichts zum Abendessen gemacht hatte, und vielleicht – ich sage vielleicht, weil ich mir nicht sicher war – auch nicht zu Mittag. Ich ließ es zu, dass der Schlaf mir ganz schnell wieder die Augen schloss.
Um sechs stand ich auf, ließ Eier in die Pfanne gleiten, holte den Orangensaft aus dem Schrank, und während ich dastand und dem Brutzeln des Öls lauschte, fiel mir wieder die Uhr ein: Ich hatte Batterien gekauft. Doch das Batteriefach war leer. Dann waren sie also gar nicht abgelaufen gewesen. Sie hatte sie herausgenommen. Sie war heimlich in mein Zimmer gegangen und hatte sie herausgenommen. Blöde Kuh.
Ich legte die neuen Batterien ein und ging zu ihr ins Zimmer, wobei ich laut mit der Tür schlug. Sie schlief auf dem Rücken wie eine Mumie, die mageren Arme, die die Ärmel des Pyjamas nicht füllten, halbleer über der Brust gefaltet, wie ein Visier. Doch was sie anhatte, war nicht der ausgeblichene Pyjama, den ich ihr am Vorabend wie jeden Abend angezogen hatte, der hier war viel schöner und aus weißer Seide, wer weiß, wann sie ihn aus ihrem Schrank ausgegraben und warum zum Teufel sie sich umgezogen hatte. Ich hängte die Uhr an die Wand, dort, wo immer noch der leere Nagel steckte. »Frühstück ist fertig, steh auf.«
Sie antwortete mir mit einem trägen Lächeln, das Pscht bedeutete, die Augen immer noch geschlossen und runden Schweißflecken unter den Armen. Das ist das Einzige, was sie immer noch richtig gern macht: Kleidungsstücke mit allen Flüssigkeiten zu tränken, die sie produzieren kann.
Der Unterricht ging weiter, aber auch die mittwöchlichen Ausflüge nach Scarborough. Um die Mittagszeit spazierten Jimmy und ich über die Hauptstraße, auf der es nach frittiertem Fisch stank. Das Meer folgte uns, aber manchmal veränderte es seine Farbe. Es gab jede Menge Bordelle, und jeder Zeitschriftenladen verkaufte Pornos. Die Leute, die herumliefen, waren dicklich und gut gelaunt, alle trugen Plastik-Flipflops, und das Licht trieb es hemmungslos mit dem weichen Gelb ihrer Haarschöpfe und dem Schweinchenrosa ihrer Haut. Wir kauften uns Cheeseburger und Pommes und kehrten in unsere Grotte zurück.
Wir hatten Sex. Mindestens zwei Mal hintereinander. Manchmal drei Mal. Alles andere war uns scheißegal.
Ich schrieb mein persönliches Schriftzeichen auf Jimmys perfekten Brustkorb, was ihn manchmal so kitzelte, dass er lachen musste. Er pflanzte lauter Küsschen auf meinen Körper, wie ein hysterisches Kind.
Ich sah den Möwen hinterher, wie sie am Himmel davonflogen und zu dem Zeichen für »sehen« wurden, einem offenen Quadrat, aus dem unten zwei geschwungene Linien herausragen. Ich machte die Beine breit, und dann war ich selber dieses Ideogramm, und er schrieb in mir drinnen und übergoss mich schließlich mit seiner geheimen Tusche, und ich sagte: »Machen wir’s noch mal«, aber das Geräusch meiner Worte drang nur ganz leise an mein Ohr, hinter den Wellen, hinter dem Regen, ach, ich hatte nicht mal gemerkt, dass es regnete.
»Ich hatte es auch nicht bemerkt. Ja, komm, machen wir es noch mal, ich hab Lust.«
Dann kehrten wir ans Ufer zurück, wie Abfall, der nach oben treibt, die Füße voller Algen und Sand. Das Geräusch des Meeres verfolgte uns, es erinnerte an dieses röhrenartige Instrument aus Afrika, mit dem man Wellenrauschen nachmachen kann, doch in Scarborough war es das Gegenteil, da waren es die Wellen, die das Instrument nachahmten.
Da waren ein Junge und ein Mädchen, die sich auf seltsame Weise küssten, wie Katzen, und im Radio lief Björk, ausgerechnet die, die ich schon so lange nicht mehr gehört hatte! Ich ging näher hin, die Musik wurde lauter, die schrillen Töne überlagerten das ununterbrochene Meeresrauschen. »Look at the speed out there it magnetizes me to it …«
Ich fuhr nach Hause, und nichts änderte sich. Es änderte sich auch nichts, wenn ich zu Wen in den Unterricht ging.
Das Klingeln des Handys und des Herds und des Weckers drängten sich mit Gewalt in meine Tagträume, aber ich dachte weiter
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