Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Ohren zu. »Hör endlich mit dem Gequatsche auf, dass wir sterben, verflucht!«
Die Kellnerin kam herein. Es war die mit dem großen Busen.
Und es stimmte, dass nur noch meine Mutter mit der Polaroid fehlte. Dabei macht sie ja bloß noch Fotos von der Schönheit des Universums, und ich habe nicht mehr das Recht, ihr vor die Linse zu kommen.
Jimmy zog seine Unterhose wieder an, während die Chinesin uns auf Englisch rausschmiss. Ich, mit entblößtem Busen, hob Björk auf, die zerknittert und voller roter Soße war, entschuldigte mich bei der Kellnerin: »Jetzt hör doch mal, verdammt!«, aber sie rief den Chef und hörte mir einfach nicht zu. Vielleicht verstand sie ja kein Italienisch.
Auf dem Heimweg drehte sich mir alles im Kopf. Mit dem Poster der Sängerin meines Herzens unter dem Arm drohte ich dem pakistanischen Jungen an, ihn umzubringen, wenn er mir nicht eine DVD mit einem Konzert von Björk auslieh.
»Hast du kapiert? Die isländische Sängerin!«
»Ach so!«
Er nickte, ging auf ein Regal zu.
Als er zurückkam, hatte er den isländischen Film in der Hand, den mit der Lawine, von dem ich endgültig die Schnauze voll habe, weil sie es alle nicht erwarten können, dass ich überlebe.
Zu Hause steckte ich das einzige Album von Björk, das nach dem Tod meines Vaters überlebt hatte, in den tragbaren CD -Player, der voller Tipp-Ex und Klebstoff war, aber trotzdem noch ging, bloß dass er auf einmal die Töne meiner Mutter von sich gab, die Casta Diva auf der Flöte spielte.
Verwirrt rannte ich aus dem Zimmer, und da stand sie tatsächlich, auf dem Treppenaufgang, la si la sol la do, die losen Haare über den Schultern, halb von der Dunkelheit verschluckt, zwischen den Lippen die Flöte, die einen eleganten rechten Winkel vor ihrem rot gewandeten Körper bildete. Sie spielte. Das Haus wurde zu si la sol sol fa la sol fa.
Mir lief ein Schauder über den Rücken, kalter Schweiß brach mir aus.
Ich wusste nicht, ob wegen Casta Diva oder wegen dem Acrylgemisch meines Pullovers.
Ich stand reglos da. Die Kleine. Ihre Kleine. Sie da oben auf der geraden und steilen und staubigen Treppe, ganz rot, wie ein umgekehrter Turm zu Babel, der, statt die Sprachen zu vervielfältigen, alle ausgelöscht hatte. Und diese Sonnenfinsternis aller Sprachen nur, um zu diesem Moment zu gelangen, in dem sie stumm, aber wunderschön ihr Lieblingsstück spielte, so wie früher.
Für mich, die ich sie von unten betrachtete und weinte, wie ein Untertitel, der lautete: »Die Welt hat auf dich gewartet und lebt noch immer für deine Schönheit.«
Ich verharrte am Fuß der Treppe.
»Bleiben Sie bei uns auf Pearl Radio.«
An einem bestimmten Punkt sang auch Björk los, mein Computer ist schrecklich langsam. Es war das Lied, wo sie im Video in ein Museum kommt und dort inmitten mehrerer Gemälde auch ein junger Mann ausgestellt ist, der schläft. Björk legt in der Nähe eine Bombe, aktiviert sie und läuft aus dem Museum. Die Bombe explodiert, und als sie zurückkommt, ist alles zerstört, bis auf den Jungen, der schlief. Er ist aufgewacht, und sie umarmt ihn.
Ich blieb wie benommen da unten stehen, die Tränen liefen mir über die Wangen, während die beiden Harmonien miteinander verschmolzen, als wären es zwei Körper.
»Mama, komm her, ich will dich umarmen …«
Sie ließ die Flöte sinken. Sie schüttelte mit einer kleinen Handbewegung die Speicheltröpfchen aus dem Mundstück, drehte sich um und kam die Treppe herunter. Sie umarmte mich nicht.
In meinem Zimmer schaute ich im Wörterbuch nach und sah, dass ich recht gehabt hatte. »Konfuzius« und »Loch« sind das gleiche Zeichen, das Zeichen, das in Neon über dem Restaurant leuchtete, das auf der Speisekarte stand, genau das gleiche Zeichen mit dem Radikal für »Kind«. Ich weiß nicht, ob sich das Restaurant jetzt »Konfuzius« nannte oder »Loch«. Ich legte mich aufs Bett.
Im Haus war es wieder still geworden.
Ich nahm die Schere vom Tisch. Machte den Schrank auf. Es hing nicht ein Kleid darin, das von meiner Wut verschont geblieben war. Ich stieg auf den Stuhl, um nachzuschauen, ob in dem Fach darüber noch welche lagen, doch Fehlanzeige, nur ein paar Blätter, die mit chinesischen Schriftzeichen vollgeschrieben waren. Aber natürlich war es schon eine Weile her, dass ich Klamotten aus dem Müllcontainer geholt hatte.
Ich setzte mich aufs Bett. Schaute die Schere an. Schaute meine rechte Hand an, die die Schere hielt. Meinen rechten Arm. Und den linken, mit
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