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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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durchgedrückte Rücken und das makellose Blond.
    »Mama, was ist denn …«
    Sie hob ihre Polaroid von den Knien, richtete sie auf mein Gesicht, und ich riss die Augen auf.
    Und wenn du bis drei zählst, mein Schatz …
    Wirst du wieder gesund? Wirst du wieder ein richtiger Mensch? Sprichst du wieder?
    Sie richtete das Objektiv nach unten auf den Boden, auf die Margerite, die irgendwie dorthin gekommen war.
    Sie löste das weiße Licht aus.
    »Mama, wie schön, warum hast du dich so schick gemacht? Mama, hörst du mir zu?«
    Sie stand auf und ging hoch in ihr Zimmer. Ihre Absätze hallten im ganzen Haus wider.
    Und so kamen wir direkt zum neunten April. In der Christopher Road war nicht viel zu erwarten, doch Scarborough füllte sich mit fröhlichen Engländern, die so taten, als würden sie schwimmen gehen. Ich kraulte an ihnen vorbei, mit Jimmy vor mir, und so kamen wir an unserer Grotte an.
    Als wir nach Leeds zurückkehrten, wollte er mich nach Hause begleiten. Und so brachte ich ihn in die Victoria Road, wo ich früher eine Wohnung gehabt hatte, die ich jedoch nie bewohnt hatte.
    In der Victoria zwingt dich alles dazu, glücklich zu sein – die Schönheit der gotischen Glockentürme, die Eleganz der Häuser aus dunklem Backstein, alle vereint und unterbrochen nur durch die Pflanzen, die auch im Tode noch immergrün sind. Wer in der Victoria Road nicht glücklich ist, wird strafrechtlich verfolgt.
    In der Wohnung wohnte mittlerweile ein viel zu blondes Paar, das zu viel lächelte. Durch dieses übertriebene Lächeln hatten sich bereits tiefe Falten um ihre Münder gebildet, und selbst wenn sie mal nicht glücklich waren, lächelten sie trotzdem weiter, jedes Lächeln zog ein weiteres nach sich, wie eine harte Droge, dieses Lächeln, durch das sie sich für Propheten Christi hielten, als könnten sie damit anderen den edlen Befehl erteilen, es sich gut gehen zu lassen.
    Er war Architekt und meinte, nein, meine Sachen seien nicht mehr da, aber genauer gesagt wisse er gar nicht, wovon ich redete. Dann fragte er, ob wir Tee wollten, Jimmy nickte, und ich antwortete, ich hätte die Wohnung bestimmt besser eingerichtet, das Rot an den Wänden würde höchstens Stieren gut stehen, und was das denn eigentlich sei, ein Massagesessel?
    »Entschuldigt, wo ist das Bad?«
    »Dort hinten, erinnerst du dich nicht?«
    »Nein, ich hab letztendlich nie hier gewohnt.«
    »Und warum fragst du dann nach deinen Sachen?« Er lächelte.
    Ich durchquerte den kurzen Gang und sah durch eine offene Tür ein vertrautes Gesicht. Björk. Das war mein Zimmer, und da hing immer noch mein Poster. Sie hatten es gerahmt, die Arschlöcher, und sie sah darin wie ein trauriges Schneewittchen in seinem Glassarg aus. Poster muss man atmen lassen, man muss es zulassen, dass sie sich die Vibrationen der Luft ins Gesicht wehen lassen, dass sie Knicke an den Ecken bekommen, dass sie vergilben wie Menschen, ganz langsam, vom Alter und durch den Luftzug. Und dann das hier – was für eine Schande!
    Dieses einbalsamierte Gesicht schaute mich voller Bangen an, weiß an den Wangen und auf den Federn des Kleides, schwarz in den glitzernden, stechenden Augen und im Abgrund des halb geöffneten Mundes, ich musste etwas machen, musste sie befreien … »You’ll meet an army of me.«
    Der Architekt kam besorgt ins Zimmer gelaufen, als er das Glas brechen hörte. Ich drückte ihm das Design-Lexikon in die Hand, mit dem ich die Scheibe des Rahmens eingeschlagen hatte, und rannte hinaus, mit Björk unter dem Arm. Jimmy sah mich hinauslaufen, immer noch die Teetasse in der Hand, als wäre er von einem Planeten heimgekehrt, der nicht meiner war. Er lief nach mir hinaus und rief: »Was für ein heißer Feger, diese Verlobte meines Bruders!«
    Wir rannten Hals über Kopf die Treppe hinunter, wie aufgeregte Kinder, die Arme in der Luft, außer Atem. Der Architekt verfluchte mich auf Deutsch. Nein, ich wusste nicht, dass es Deutsch war. Aber die Nationalität ist wurscht, in der Victoria Road muss man einfach glücklich sein. Und tatsächlich liefen ich und Jimmy und Björk durch Leeds und lachten wie die Blöden.
    Als wir beim »Restaurant Konfuzius« vorbeikamen, wollte er unbedingt hinein. Dann bestand er darauf, in einem Separee zu essen, sagte, in China mache man das so. Man brachte uns in einen Raum, der mit schwarzen Ideogrammen auf sandfarbenem Untergrund gefüttert war. Zwischen den einzelnen Schriftzeichen waren kleine schwarze Teesets verteilt. Der Tisch war

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