Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
an Scarborough. Zu Hause, auf der Straße, im Supermarkt, im Geschäft. Der Moment, in dem ich den Körper von Jimmy wiederfand, dehnte sich wie ein Gummiband, und ich zog ihn weiter aus, und nach dem T-Shirt zog ich ihm auch die Haut aus. Das Geflecht seines Brustkorbs war das Zeichen für »Sex«, das links den Radikal »Herz« hat und rechts den von »Leben«.
»Camelia, hörst du mir zu?«
»Ja, Wen.«
Wenn ich am Abend nach Hause kam, nahm ich eine lange Dusche, bis meine Fingerspitzen wie Wellpappe aussahen. Meine Mutter betrachtete mich durch das Plexiglas der Duschkabine hindurch.
»Was machst du denn hier? Warte, bis du dran bist. Nein, ich wasche dich nicht, mach es selber.«
Sie steckte eine Hand in die Tasche ihres Jogginganzugs. Knallte ein Foto an die Wand der Duschkabine. Hinter der trüben Oberfläche erkannte ich einen Baum mit dichter Krone und dahinter, unscharf, eine üppige und hell leuchtende Wiese.
Ich stieg aus der Dusche. Sie stand immer noch da und hielt mir das Foto mit ausgestrecktem Arm hin wie eine Trophäe. Der Baum reckte sich mit einer Frische und einer Leidenschaft gen Himmel, die unglaublich waren. Ich konnte sehen, wie er sich bewegte. Die undeutliche Wiese zu seinen Füßen war ein ganzes Volk, das ihn tief gebeugt anbetete, bereit, ihm Menschenopfer zu bringen.
Sie sagte mir mit ihrem Blick Wieso Menschenopfer ?
Ich nahm ihr das Foto aus der Hand, ohne mich auch nur abzutrocknen. Es wurde nass. Dieser Baum war so nah an der Lebendigkeit des Universums, wie es nur möglich war. Unglaublich, dass eine gewisse Anzahl von Sechzigstelsekunden dem Licht genügte, um durch das Objektiv zu dringen – eine exakte Öffnung der Blende, eine einzige Handlung, mit der man das Objekt ins Visier nahm und den Rest nicht weiter beachtete –, um ein solches Bild zustande zu bringen.
»Hast du das gemacht? Wirklich? Das ist der Hyde Park, stimmt’s?«
Meine Mutter war bis zum Hyde Park gegangen.
»Aber hast du wirklich das Haus verlassen?«
Sie lächelte wie ein menschliches Wesen. Gott hat sechs Tage arbeiten müssen, um die Schönheit des Kosmos zu erschaffen. Meiner Mutter hatte ein kleiner Spaziergang zum Hyde Park genügt.
Wie in alten Zeiten, wenn sie bloß einen Arm zu heben brauchte, um die Welt zum Klingen zu bringen. Eine Bewegung der Finger, und der Wind am Fenster spielte sol mi do. Ein Zurechtrücken der Haare, und der Kühlschrank gab ein Re diesis zum Besten. Ohne es zu wissen, hatte sie das Talent, das Orchester der Schönheit der Welt zu dirigieren. Mir schlug ganz fest das Herz.
»Sag bloß, du bist allen Ernstes in diesen Fotokurs gegangen?«
Sie lächelte immer noch.
»Aber warum hast du mich nicht in den Park mitgenommen?«
Sie nahm mir das Foto aus den Händen.
»Mama, ich bitte dich, hörst du mir zu?«
Sie ging aus dem Bad.
Mein Chinesisch wurde immer besser. Und das war auch der Grund, warum es April wurde.
Jetzt hätte alles passieren können. Ob Morde oder ein Tsunami oder eine Heuschreckenplage, ich hätte alles auf Chinesisch übersetzen können.
Am dritten April zweitausendacht sagte Wen, der längere Haare hatte: »Ich mag Blumen.«
Ich sagte: » Wo xihuan huar.«
Er: »Heute bin ich glücklich.«
Ich: » Jintian wo hen gaoxing.«
Als ich nach Hause kam, lagen im Müllcontainer die ganzen Klamotten meines Vaters, alle Beatles-T-Shirts, die offenbar nach der Größe ihrer Löcher sortiert waren, und da waren auch seine schwarzen Nikes und alle Hemden. Ganz obendrauf lag sein Notizbuch, der Einband aus Knautschleder, der gleiche Geruch der Seiten. Drinnen standen immer noch seine Geschichten, die Geschichten eines begierigen Journalisten, geschildert in einer Schrift, die fast hieroglyphisch war. Die Geschichten von Dingen, die existiert hatten, und manche von solchen, die es nie gegeben hatte, jedenfalls lauter Geschichten, die jetzt von den Würmern gefressen wurden.
Ich warf sie zurück in den Müll. Mit dem ganzen Geruch, den sie verdienten.
»Hast gut daran getan, das alles wegzuschmeißen«, sagte ich zu meiner Mutter. Ich sah sie in der Küche sitzen, in ihrem bedruckten Seidenkleid von Alexander McQueen in Weiß und Blau, ihre Haare waren gewaschen und hingen ihr offen über die Schultern, ein waches Blond wie die Sonne über der Wüste, fast weiß, das aus den Schattierungen blutete, die der Tag den Objekten auferlegt.
»Mama, was ist denn los? Du siehst super aus!«
Sie drehte sich nicht um, ihr Körper blieb, was er war: der
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