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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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dem Punkt, den Jimmy im Restaurant so fest gedrückt hatte. Ich legte die Schere auf meinen nackten Oberschenkel.
    Ich durchstieß die Kniekehle. Der Strich blieb eine Sekunde lang das Zeichen für »eins«, dann kam das Blut.
    Ich machte mit zwei gebogenen Strichen weiter, die sich miteinander verschlangen, und einem kleinen darüber, dem Schriftzeichen für »Wen«, aber ich hatte vollkommen die Reihenfolge der Striche durcheinandergebracht. Zuerst kam der kleine Strich, dann die horizontale Linie, dann die beiden Kurven, wie hatte ich das bloß falsch machen können? Ich trocknete meine Tränen und schrieb das Zeichen weiter unten noch einmal richtig hin. Jeder Strich überlebte heil für unendliche Zeit, beschmutzte sich dann, wurde zu einem langen und zergliederten Streifen, der schließlich auf die anderen Striche an meinem Bein traf. Von diesem Blutrinnsal aus meiner Kniekehle wurde mein Körper zusammengehalten. Ich dachte an die chinesische Legende, die besagt, wenn ein Junge und ein Mädchen füreinander bestimmt sind, dann verbindet sie für immer ein roter Faden.
    Der nächste Tag war ein Donnerstag, aber zum Unterricht wäre ich sowieso nicht mehr gegangen. Um zehn nach zehn läutete das Telefon und hörte erst auf, als es von der Stille aufgefressen wurde.
    Ich schaltete den Fernseher ein, wo ein Kostümfilm gezeigt wurde. Die Frauen trugen riesige Röcke mit eingeschnürten Taillen. Ich notierte mir die Radikale der Dinge, die ich sah, auf meinem linken Bein. Mit der Schere, wohlgemerkt.
    »Mutter«. »Kind«. »Tür«. »Holz«. »König«. »Mond«. Das Rauschen des Regens von der Straße übertönte die Geräusche aus dem Fernseher. Wie eine verschobene zweite Tonspur. Wie ein Chor aus verlogenen Stimmen, die eine falsche Geschichte erzählten, jedenfalls nicht meine, weil das bestimmt nicht ich war, die sich die Beine zerschnippelte, während draußen dem heimtückischen Frühling von Yorkshire allmählich die Luft ausging.
    Die blonde Frau im Film redete Regen, und ihre Mutter, die auf sie zuging, antwortete Regen. Ich drehte die Lautstärke noch weiter herunter, plickplickplick , machte der Regen, plick machten die Kutschpferde im Film.
    Dort draußen das unendliche Sadomaso von Erde und Himmel, die Wolken, die selbst die unschuldigsten Wiesen mit Wasser malträtierten, und ich zu Hause, um am Fenster der kalten und lasterhaften Sonnenfinsternis des Tages beizuwohnen. Und der Nacht, die hereinbricht wie ein Tier, das vom Himmel geworfen wird.
    Sie bricht schon am frühen Morgen herein, die liederliche Nacht von Leeds. Sie kann einfach nicht warten. Den Tag sieht man nur im Fernsehen, alles Stuss, so wie man früher geglaubt hat, in Amerika wären die Früchte besonders groß.
    Zu Ehren des Regens pinselte ich den Radikal für Regen mit drei schnellen Schnitten unterhalb meiner Kniescheibe. Noch mehr Blut, das plickplickplick machte. Im Film weitere stumm gedrehte Worte, deren einzige Bedeutung plickplickplick war. Es kam der Abspann, und ich stillte das Blut mit dem Blatt Papier, das an der Wand hing, das mit dem Zeichen für »Poesie«, aus dem, wenn man den Radikal für »Wort« durch den für »Mensch« ersetzt, das Schriftzeichen für »Samurai« wird.
    Mit dem Gedanken: »Leeds ist ganz gewiss von allen Todesallegorien nicht die raffinierteste« schlief ich ein.
    Das heißt, vielleicht wurde ich auch ohnmächtig, ich weiß es nicht genau. Bis aus dem plickplickplick ein Klingelingeling wurde.
    »Ja … ja?«
    »Ich bin’s, Jimmy. Wir müssen nach Scarborough, auf der Stelle.«
    »Bitte?«
    »Komm, gehen wir, ich muss mit dir sprechen.«
    »Es regnet, Jimmy.«
    »Nein, nicht mehr, die Sonne scheint.«
    »Wie viel Uhr ist es?«
    »Viertel nach eins.«
    »Mir geht es nicht gut, und ich will niemanden mehr sehen.«
    »Warum?«
    »Und außerdem wäre ich heute sowieso zum Unterricht zu Wen gegangen.«
    »Ich komme zu dir.«
    »Ich muss auch mit dir reden.«
    »Über was denn?«
    »Ich hör jetzt auf, mir tun die Beine weh.«
    »Wieso?«
    »Wir müssen reden, Blödmann, und du musst mir verdammt noch mal die Wahrheit sagen.«
    »Wir sehen uns am Bahnhof.«
    Er hängte ein. Ich schmiss die Schere mit voller Wucht in Richtung Fernseher.
    Sie traf die Frau in Blau aus der Serie, die gerade angefangen hatte. Ich erinnerte mich, dass sie bis vor ein paar Folgen einen Haufen Falten gehabt hatte. Die Schere glitt nach unten auf den Teppich.
    Sie hinterließ ein tiefes Loch, wie die Unterschrift der Welt

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