Sieg des Herzens
nicht böse?«
»Erst, wenn durch dein Wirken im Kontor unsere Zahlungen die Einnahmen übersteigen sollten.«
»Vater!«
Es war ein leiser Jubelruf des Sohnes.
»Lies deinen Prolog«, sagte der Handelsherr noch einmal rasch, um zu verhindern, daß er in aller Öffentlichkeit von seinem Sohn auch noch umarmt wurde.
Doch die Antwort, die ihm erteilt wurde, lautete: »Nein, Vater, nicht den Prolog – dieser wird nie mehr gesprochen werden. Er ist mir jetzt, in diesen Sekunden, zu einem Heiligtum geworden.«
»Was dann, mein Sohn?«
Der Dichter überlegte, sein Blick ging über die erwartungsvolle Menge und suchte ein bestimmtes Augenpaar. Er fand es. Dort am Kamin stand die Besitzerin der schönsten Augen der Welt: Ihr Blick begegnete dem seinen. Ihr Haupt unterstützte durch ein leichtes Nicken die Bitte der Allgemeinheit an ihn, den Dichter.
»Ich will«, sagte er kurz entschlossen, sich eine Haarsträhne aus der Stirn streichend, »keine Verse bringen, die ich schon geschrieben habe, sondern mich am Gegenwärtigen versuchen, möchte das wählen, was im Sprechen mir zum Geiste dringt, und das heißt: Ein Stegreifdichten will ich Ihnen bieten.«
Zuhörerinnen und Zuhörer setzten sich in Positur. Auch das Mädchen am Kamin ging zurück zu seinem Stuhl. Zweifel ließ allerdings der Vater erkennen, dessen Stirn sich sorgenvoll faltete. Stegreifdichten? Wie konnte man im Handumdrehen Kunst erschaffen? Kunst, die Zeit benötigt, sich in ihrer Fülle zu verwirklichen?
O Elend, wenn sein Sohn sich, ihn und die Ehre des ganzen Hauses der Lächerlichkeit preisgab! Warum trug er nicht seine Werke vor? Warum setzte sich in ihm die ausgefallene Idee fest, den Augenblick, den flüchtigen, im Gedicht zu erhaschen? Ein Fiasko drohte. Der Handelsherr wäre am liebsten aus dem Zimmer gelaufen, durfte sich das aber keinesfalls erlauben.
Er war ein nüchterner, sehr, sehr guter Kaufmann aber eben nur ein Kaufmann; er wußte nichts von der Kraft des Genies.
Still war es geworden. Der Dichter suchte wieder jenes Augenpaar, auf das allein es ihm ankam. Er fand es, und da fühlte er, wie es in seinem Herzen aufbrach. Ein Hauch des Geistes, ein Funken Kraft, Selbstvertrauen, Glaube an seine Intuition und viel, viel Begeisterung lebten auf in ihm.
»Wir haben Frühling«, sagte er mit klarer Stimme. »Frühling, der uns hebt mit unsichtbarer Macht, der in uns die Gefühle weckt, von denen wir im Eis des Winters nur träumen, die wir uns ersehnen. Ein Zauberstab berührte die Natur, und aus den toten Zweigen sproß das Leben, die erstarrte Erde lockerte sich und schickte mit Wunderkraft die ersten Blumen in die Sonne. Ist das nicht alles nur ein Gleichnis der Natur, daß alles leben muß und, wenn es vergeht, doch unsterblich wiederkehrt, öfter wechselnd in Gestalt? Der Mensch ist auch ein Kind der mächtigen Natur – kehrt er zurück? Wer kann es je ergründen, nachdem die Erinnerung uns fehlt? Doch sehe ich hinaus in die Sonne, wandle ich die blumengesäumten Wege, höre ich den Gesang der Vögel, dann drängt es mich, laut aufzujauchzen vor Lebenslust und zu deklamieren …«
Klar klang seine Stimme durch den stillen Raum, zart, beschwörend trafen ihn diese glänzenden Augen, die ihm Mut, Kraft und Vertrauen gaben.
»O welch zauberhaftes Klingen,
hell wie Silberglöcklein, zart, gehaucht,
Elfenreigen seh ich tanzend,
weiße Lilien in der Hand,
Hochzeitsfest der Blüten feiern.
In den goldgesponn'nen Haaren
glitzern Perlen – Morgentau,
und der Quelle leises Rauschen
ist der Takt der Festmusik.
Frühling – Herz, o öffne dich,
springe, sprieße, knospengleich,
blühe, locke und empfange
sinnentaumelnd und gebäre.
Stetig wechseln schnell die Zeiten,
eines bleibt und herrscht - Natur!«
Still blieb es im Raum, als er geendet hatte, ganz still, doch nur sekundenlang, dann brach ein Beifallssturm los, der die Fensterscheiben zum Erzittern brachte. Indes, der Dichter sah nur diese Augen, diese leuchtenden Augen, in denen es jetzt zu glitzern begann … Tränen dankten ihm für diese kleine Probe seines dichterischen Gefühles.
Der Vater eilte auf ihn zu, nahm ihn stürmisch in seine Arme, drückte ihn an seine Brust und küßte ihn auf die Stirn, stammelnd, nur mit Mühe einige Worte hervorbringend. »Mein Sohn, mein lieber, einziger Sohn …«
Aber schon wurden die beiden auseinandergerissen, die Gäste drängten sich zwischen sie, und über dem jungen Dichter schlugen die Wogen der Begeisterung zusammen. Jeder wollte
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