Sieg des Herzens
schließlich den Befehl erhalten hatte, umgehend nach Richmond zu reisen, um dort sofort die Leitung der Lazaretteinrichtungen außerhalb der Stadt zu übernehmen.
Wieder sammelte sich der Schweiß in Julians Augenwinkeln. Er konnte schon fast nichts mehr sehen, als sein Assistent es endlich bemerkte und ihm die Stirn abwischte. Eigentlich war er ein guter, verläßlicher junger Mann, aber eben keiner von seinen eigenen Leuten. Die waren gerade dabei, noch mehr Verletzte vom Schlachtfeld zu holen...
Julian hätte weinen mögen, doch es blieb ihm einfach nicht genug Zeit, sich um alle zu kümmern. Der Mann, der nun vor ihm lag, hatte Glück gehabt. Sein Bein war gebrochen, aber die Kugel war ziemlich sauber durchgegangen und fast wieder ausgetreten.
»Sir, sehen Sie nur, wo die Kugel sitzt«, rief da Julians junger Assistent.
»Ja, Thomas, ich hab's schon gesehen. Geben Sie mir bitte die Pinzette.«
»Haben Sie denn Zeit dazu?«
»Ja, geben Sie mir jetzt die Pinzette, Mann!«
Zeit ... Riskierte er womöglich das Leben eines anderen, während er sich bei diesem hier die Zeit nahm, ihn zu operieren, damit er später wieder laufen konnte? O Gott, er mußte so furchtbar schnell arbeiten. Plötzlich erschauerte er. Inmitten dieses Wahnsinns überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl, und eine ungeahnte Sehnsucht, die ihn ganz nervös machte, bemächtigte sich seiner: Wenn Rhiannon nur hier bei ihm sein könnte. Schon komisch, sie behauptete zwar, daß sie ihn verabscheute, aber wenn sie ihm assistierte und sich ihre Augen trafen, zweifelte er niemals an seinen Fähigkeiten. Vielleicht war es umgekehrt genauso. Möglicherweise kam es nur auf das gegenseitige Zutrauen an. Sie glaubte, daß er Wunder bewirken konnte, und er glaubte, daß sie heilende Hände hatte. Wenn sie doch bloß auch an die Wahrheit glauben könnte...
»Sir, die Wunde ist gesäubert, wir können ihn nun auf den Tisch legen und sein Bein schienen.«
»Sie sind ein guter Mann, Thomas.«
»Nein, Sir, Sie sind ein guter Arzt«, entgegnete Thomas. Dann rief er jemanden zu Hilfe, und der Verwundete wurde von Julians Operationstisch gehoben. Sobald er weg war, brachte man ihm auch schon den nächsten.
»Ein Bauchschuß, Sir!« schrie der Assistenzarzt.
Warum bringt ihr ihn dann zu mir? hätte Julian beinah zurückgeschrien.
Der Mann, der sich nun stöhnend vor ihm auf dem Tisch wälzte, hielt die Hände auf den Bauch gepreßt, zwischen denen seine zerfetzten Eingeweide hervorquollen, und jammerte laut: »Ich sterbe, es ist aus mit mir. Gnädiger Gott, ich sterbe!«
Er war noch sehr jung - vielleicht achtzehn Jahre alt -, aber er hatte recht.
»Halt noch ein wenig aus, Junge, wir sehen uns das mal an ...«, sagte Julian beruhigend.
»Nein, Doktor ...«, entgegnete der Soldat und versuchte, sich aufzurichten.
Er hatte sandfarbenes Haar, die unreine Haut eines Heranwachsenden, einen leichten Flaum am Kinn und walnußbraune Augen, die er plötzlich weit aufriß, während er Julian ansah. Dann sank er zurück auf den Tisch. Er war tot.
»Entschuldigen Sie, Sir, wir haben nicht gesehen, wie schwer...«
»Bringen Sie sie mir auch rein, wenn es so aussieht, als gäbe es keine Hoffnung mehr!« sagte Julian, von der Verschwendung dieses jungen Lebens aufgebracht, seinen ursprünglichen Vorbehalt vergessend. »Vielleicht kann ich nichts mehr für sie tun. Aber wie soll ich das feststellen, wenn ich sie nicht vorher gesehen habe?«
So ging es den ganzen Tag weiter. Er konnte ein paar Leben retten - zumindest fürs erste. Andere starben ihm unter den Händen weg, und er wußte nicht einmal, wie sie hießen, kaum daß er ihre Gesichter erinnerte. Als er an diesem Abend völlig erschöpft auf sein Feldbett sank, konnte er sich nur noch daran erinnern, wie ihm die ganze Zeit der Schweiß in die Augen gelaufen war...
Er hatte auch früher schon Kriegsverletzungen behandelt, aber seit er mit Rhiannon gearbeitet hatte, hatte er ohne sie immer ein ungutes Gefühl dabei. An ihren Augen konnte er ablesen, daß sie genau wußte, was er als nächstes vorhatte; und sie hatte ihm immer das richtige Instrument gereicht. Er erinnerte sich gerne an ihre helfenden Hände, ihre sanften, kundigen Handgriffe. Sie hatte irgendwie seine Seele berührt. Er wünschte sich so sehr, sie jetzt in seiner Nähe zu haben.
Ja, sie war eine Hexe, eine wunderschöne Hexe der Erde oder der See, und manchmal machte sie ihn auch rasend.
Aber er wollte sie bei sich haben, und zwar hier und
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