Sieg des Herzens
sein, um davonzurennen; auch hatte er kein Indianerblut in den Adern wie seine Vettern. Aber er hatte genügend Sommer mit ihnen verbracht, um zu wissen, wie unverantwortlich es war, einzuschlafen, wo man doch eigentlich Wache halten sollte. Normalerweise passierte ihm das nicht. Außerdem befand er sich verdammt noch mal lange genug in diesem Krieg, um beim leisesten Rascheln der Blätter oder dem winzigsten Windhauch zu erwachen; und wenn sich ihm jemand zu Fuß näherte, hätte ihn das Geräusch der Schritte sofort wecken müssen. Aber das war nicht der Fall gewesen. Er hatte geschlafen wie schon seit Ausbruch des Krieges nicht mehr.
Rachel sah ihn mit weit aufgerissenen Augen erschrocken an. Als er sich streckte, bewegte sich Rhiannon in seinen Armen ebenfalls und wachte auf. Nun sah auch sie ihn mit großen, grünen Augen an - nicht erschrocken zwar, aber verwundert, da sie nicht gleich wußte, wo sie sich befand.
»Rhiannon, was ist den los?« fragte Rachel ängstlich.
»Es geht ihr wieder gut«, entgegnete Julian rasch, erhob sich und reichte Rhiannon eine Hand, damit sie ebenfalls auf die Beine kam.
»Rhiannon war letzte Nacht ein wenig fiebrig«, log er. »Es ist noch nicht ganz vorbei, aber nun wird es ihr bald wieder bessergehen.«
Rhiannon sah ihn wortlos an. Sie schien ihm zwar nicht gerade dankbar dafür zu sein, daß er Rachel diese Notlüge aufgetischt hatte, aber sie stritt sie auch nicht ab.
»Gott sei Dank haben wir einen Arzt bei uns!« entgegnete Rachel, als sie sich wieder gefaßt hatte. »Besonders, da wir uns sonst immer darauf verlassen können, daß Rhiannon alle Wehwehchen kuriert. Es ist ein echtes Problem, wenn sie selbst einmal krank wird. Ist auch wirklich alles in Ordnung, Rhiannon? Du siehst immer noch ziemlich blaß aus.«
»Ja, Gott sei Dank haben wir einen Arzt bei uns«, wiederholte Rhiannon trocken, und um Rachel zu beruhigen, fügte sie noch hinzu: »Es geht mir gut, das heißt, es wird mir bald bessergehen.« Dabei strich sie sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. »Ich brauche Wasser zum Kaffeekochen ...«, versuchte sie dann vom Thema abzulen-ken. »Wir haben doch Kaffee dabei, Rachel, nicht wahr? Mammy Nor hat uns doch Kaffee eingepackt?«
Rachel nickte, blickte glücklich lächelnd zu Julian und erklärte ihm: »Es ist richtiger Kaffee, wissen Sie!«
Das war wirklich etwas Besonderes, da es im Süden immer schwieriger wurde, an echten Kaffee heranzukommen. Meistens begnügten sich die Leute mit Schwarzbeerenblättern, um Tee davon aufzubrühen, und wenn tatsächlich einmal so etwas Ähnliches wie Kaffee zu haben war, handelte es sich in der Regel um ein Gebräu aus geröstetem Korn.
»Echter Kaffee!« rief Julian begeistert aus. »Das hört sich ja wunderbar an. Ich kümmere mich um die Pferde und überlasse die Damen ihrer Morgentoilette.« Mit diesen Worten wandte er sich zum Gehen.
»Es gibt auch Frühstück!« rief Rachel ihm nach. »Wir machen Ihnen auch etwas.«
»Danke sehr«, sagte er.
»Wir werden Sie ein bißchen aufpäppeln, bis Sie so kräftig sind wie Ihr Bruder«, fügte sie noch hinzu.
Bei ihrer letzten Bemerkung war Julian noch einmal stehengeblieben und hatte sich umgedreht. Nun fragte er, den Entrüsteten spielend: »Soll das etwa heißen, mein Bruder sieht kräftiger aus als ich?«
Rachel schlug die Hand vor den Mund und mußte sich ein Lachen verbeißen. »Es tut mir leid, ich meinte nicht, daß er stärker ist als sie ... Er sieht irgendwie nur gesünder aus!«
Schulmeisterlich erhob er einen Finger und entgegnete: »Lassen Sie sich da mal nicht täuschen, junge Dame. Der Schein trügt oft!«
»Das stimmt«, pflichtete ihm Rhiannon gelassen bei. Ihn von oben bis unten musternd, fuhr sie fort, wobei ihre Worte Rachel galten: »Rebellen neigen dazu, mager, hungrig -und sehr gefährlich zu sein. Du scheinst mir das nur allzu leicht zu vergessen.«
Julian hielt ihrem abweisenden Blick stand und entgegnete freundlich: »Die Gefahr kommt häufig in allen möglichen Verkleidungen, nicht war?« Dann fügte er zu Rachel gewandt hinzu: »Was immer Sie auch fürs Frühstück mitgebracht haben, ich werde es mir schmecken lassen. Echter Kaffee ist in letzter Zeit immer etwas Besonderes. Vielen Dank.«
Entschieden drehte er sich um und bahnte sich einen Weg durch das Unterholz, um zu den angebundenen Pferden zu gelangen. Er war froh, daß die Tiere an ihrem Platz so viel frisches Gras hatten. Der heutige Tag würde noch einmal eine Menge
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