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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Erste, und der nicht davor zurückschreckte, Hitler zu vergöttlichen, auch wenn er auf irgendeine Weise dieser Überzeugung selbst zum Opfer fallen mußte. Das war dann sein literarischer Sohn – und der passende Vorname für ihn war natürlich Otto: das Ergebnis der chemischen Reaktion zwischen »Rudolf Herter« und »Rudolf Otto«, dem Theologen, von dem der Begriff mysterium tremendum ac fascinans stammte. Jetzt würde er sich jedenfalls durch nichts mehr abhalten lassen. Auf genau diese nihilistische Göttlichkeit sollte Hitler am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nun endlich einmal für immer festgenagelt werden – danach würde er kein Wort mehr an ihn verschwenden.

10
    »Sie sind blaß«, sagte Julia. »Fühlen Sie sich nicht gntut?«
    Herter sah auf.
    »Nicht besonders, ehrlich gesagt. Das hat man schon mal in unserem Alter.«
    »In unserem Alter? Sie sind doch noch ein junger Hüpfer.«
    Er nahm ihre faltige Hand und drückte auf altösterreichische Art einen Kuß darauf.
    »Nun gut«, sagte er zu Falk, »er ging also ins Haus – und dann?«
    Eine dreiviertel Stunde später klingelte in der Küche das Telefon, Fräulein Braun war offenbar am Apparat, und in Begleitung von Adjutant Krause ging er mit pochendem Herzen nach oben, in seiner schwarzen Hose und der weißen Weste mit den goldenen Epauletten, am Revers die SSRunen auf schwarzem, rautenförmigem Grund und in den weiß behandschuhten Händen ein Tablett mit Tee und Gebäck. Der Hitler, den er dort in seinem niedrigen, mit Holzpaneelen verkleideten Arbeitszimmer neben dem übermannshohen, gefliesten Ofen traf, war plötzlich eine völlig andere Person. Erschöpft, amorph, in einem grauen Zweireiher mit herabgerutschten Socken, die Haare noch naß vom Baden, lag er in einem geblümten Sessel, nicht mehr als ein Schatten des dämonischen Akrobaten, der vorhin angekommen war – und ohne jede Gemeinsamkeit mit dem in hysterische Raserei verfallenden Volkstribun, den die Welt kannte. Mit einem Zahnstocher pulte er zwischen seinen Zähnen herum.
    »Offenbar war er so etwas wie eine unheilvolle Dreifaltigkeit«, sagte Herter.
    Fräulein Braun saß mit hochgezogenen Knien auf der Couch, unter dem Porträt von Hitlers schon lange verstorbener Mutter, der er sehr ähnlich sah: derselbe Medusenblick, derselbe kleine Mund. Doch trotz seiner Erschöpfung bemerkte er sofort, daß Falk neu war. Während Krause, die Hacken seiner Stiefel zusammenschlagend, ihn mit kurzen Worten vorstellte, sah Hitler ihn mit seinen leicht hervorstehenden, dunkelblauen Augen scharf an – und diesen Blick, sagte Falk, werde er nie vergessen.
    »Ich denke«, sagte Herter, »daß er Sie mit diesem berühmten Blick in die vollkommene Unterwerfung zwang. Sie stellten eine potentielle Gefahr für ihn dar, Sie waren in der Lage, ihn zu vergiften; doch mit diesem Blick, der Ihnen immer im Gedächtnis bleiben wird, lähmte er Sie wie die Schlange das Kaninchen.«
    Während er dies äußerte, kam ihm eine Formulierung in den Sinn, mit der Thomas Mann einmal Hitlers Blick charakterisiert hatte: sein »Basiliskenblick«. Der Basilisk, ein geflügeltes Fabeltier, zusammengesetzt aus dem gekrönten Kopf eines Hahns und dem Unterleib einer Schlange mit Klauen, verbrennt alles, was er betrachtet, sogar Steine zersplittern unter seinem Blick. Er kann nur getötet werden, indem man ihm einen Spiegel vorhält, so daß sein alles vernichtender Blick auf ihn selbst zurückfällt. Diese Methode hatte also etwas von einem erzwungenen Selbstmord. Doch ein Basilisk ist immerhin
    noch etwas, das gespiegelt werden kann, während Hitler die reine Negativität war. Wer ihm in die Augen sah, erlebte den horror vacui.
    »Hätte ich es nur getan«, sagte Falk.
    »Hätten Sie was nur getan?«
    »Ihn vergiftet. Doch als ich Grund dazu hatte, ging es nicht mehr.«
    Herter nickte schweigend. Es war klar, daß Falk jetzt an die Dinge rührte, die ihm auf dem Herzen lagen, und Herter wollte ihn nicht durch Fragen verunsichern. Er war dabei, sich von etwas zu befreien, das er und Julia mehr als ein halbes Jahrhundert mit sich herumgeschleppt hatten, und dafür mußte man ihnen Zeit geben. Herter bemühte sich, seine Ungeduld nicht durch einen Blick auf die Uhr zu verraten, denn so verstohlen man es auch tut, man bemerkt es immer. Die Lösung dieses Problems bestand darin, auf die Uhr eines anderen zu schauen, doch weder Falk noch Julia trugen eine. Er schätzte, daß es auf zwölf zuging. Immer wenn der Chef der

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